Andrew Hanson: "I'm not, I'm not the sum of my parts. All my parts don't add up to one... to one me, I guess."(aus Tödliche Entscheidung von Sidney Lumet, USA/UK 2007)
Was ist ein Film Noir? Was ist keiner? Während das für den Schöpfer des Begriffs, den Journalisten Nino Frank, im Jahr 1946 eindeutig war und auch das Buch Panorama du Film Noir Américain (1955) der französischen Autoren Raymond Borde und Étienne Chaumetone auf einen überschaubaren Fundus an Film Noirs verwies, sind sich die Kritiker und Filmwissenschafter seit den Siebzigern uneins. Definierte der Drehbuchautor und Regisseur Paul Schrader in seinem Aufsatz Notizen zum Film Noir (EA 1972) einen Stil und eine Gattung, vergleichbar dem italienischen Neorealismus oder der französischen Nouvelle Vague, versuchen andere, den Film Noir als Genre zu erfassen – so wie z.B. den Western oder den Gangsterfilm. Letzteres erweist sich als widersprüchlich, ersteres im Zeitalter des Neo Noirs als zumindest schwierig. Auch die historische Dimension hilft nicht immer. Während die meisten Chronisten Orson Welles’ Im Zeichen des Bösen (USA 1958) als letzten Markstein der klassischen Ära betrachten, findet Eddie Muller in seinem Buch Dark City: The Lost World Of Film Noir (1998) gute Gründe dafür, dass dieser Platz Alfred Hitchcocks Psycho (1960) gebührt. Gilt seit jeher John Hustons Die Spur des Falken / Der Malteser Falke (USA 1941) als erster Film Noir, gibt inzwischen jeder Autor zu, dass bereits Boris Ingsters Stranger On The Third Floor (USA 1940) und auch H. Bruce Humberstones I Wake Up Screaming / Hot Spot (USA 1941) alle Stilmerkmale des Film Noirs beinhalteten.
Einige wollen den Film Noir auf US-amerikanische Filme begrenzen. Hinsichtlich der politischen und gesellschaftlichen Veränderungen im Zweiten Weltkrieg wirkte der Film Noir gerade dort als seismographisches Kulturphänomen der gesellschaftlichen Entwicklung. Heute weiß man, dass weder Bildästhetik noch Themenkreise Hollywoodfilmen vorbehalten blieben. Nicht nur war die US-Filmproduktion der Vierziger maßgeblich von Exilanten und damit dem deutschen Expressionismus und dem Poetischen Realismus Frankreichs beeinflusst. Der Film Noir Hollywoods wirkte seinerseits auf das Kinoschaffen im Nachkriegseuropa, vornehmlich in England und in Frankreich, wo ab 1945 bemerkenswerte Filme gedreht wurden. Vereinzelt wurden aber auch andernorts, etwa in Argentinien und in Mexiko, in Japan und in in Süd-Korea, in der Tschechoslowakei und in Ländern Skandinaviens in den 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts Film Noirs produziert.
Fritz Langs Das Tor ins Verderben, 1947 | Robert Floreys Herr der Unterwelt, 1949 | Jules Dassins Die Ratte von Soho, 1950 © Universum Film GmbH |
Norman Fosters Einer weiß zuviel, 1950 © Arrow Films | Robert Siodmaks Gewagtes Alibi, 1948 © Caroland Musikverlags und -vertriebs GmbH | Orson Welles' Die Spur des Fremden, 1946 © EuroVideo Bildprogramm GmbH |
Heute wird der Begriff zumindest teilweise inflationär verwendet. Film Noir gilt in Marketingabteilungen der Filmindustrie als ein Mode- und Werbeetikett. Das clever inszenierte und zitatenreiche Trash-Kino Quentin Tarantinos wird seit Reservoir Dogs (USA 1992) ebenso als Film Noir vermarktet wie viele Polizeithriller mit übellaunigen Burschen und ohne Happy End. Der Comicautor Frank Miller ließ sich für seine in Schwarzweiß gehaltene Serie Sin City vom kontrastreichen Stil des Film Noirs inspirieren. Folglich gilt dessen Verfilmung (USA 2005) als ein Film Noir. Die Adaption des Computerspiels Max Payne (USA 2008) – klar, Film Noir. Sogar Christopher Nolans Science-Fiction-Epos Inception (USA 2010) segelt für manchen unter dieser Flagge. Film Noir, so scheint es, ist heute manches, was nicht in andere Schubladen passt. Durchaus offen für Neues schrieb Mak T. Conrad 2007 in der Einleitung zu The Philosophy Of Neo-Noir: “The term neo-noir describes any film coming after the classic noir period that contains noir themes and the noir sensibility.”
Der klassische Film Noir Hollywoods beeinflusste das französische Kino der Fünfziger. Ab Mitte der Sechziger beeinflussten wiederum die Nouvelle Vague und Regisseure wie Alain Resnais, Jean-Luc Godard und Louis Malle das spätere New Hollywood. Dieser Einfluss hat die geistige Topographie des Film Noirs sowohl erneut zum Leben erweckt als auch weiter entwickelt. "Until 1968, American filmmakers operated mainly under the old rule that their business was providing wholesome entertainment for a general, undifferentiated audience", argumentiert R. Barton Palmer in seinem Buch Hollywood's Dark Cinema - The American Film Noir (1994). Damit war es ab den Spätsechzigern ein für allemal vorbei. Nicht zuletzt der Neo Noir ließ die Katze aus dem Sack.
Walter Hills Johnny Handsome, 1989 © Studiocanal GmbH | John Dahls Die letzte Verführung, 1994 © capelight | Sidney Lumets Tödliche Entscheidung, 2007 © Koch Media GmbH |
Christopher Nolans Memento, 2000 © Ascot Elite Home Entertainment | Werner Herzogs Bad Lieutenant, 2009 © Splendid Film | Djo Tunda Wa Mungas Viva Riva , 2010 © Summiteer Films |
John Boormans Point Blank – Keiner darf überleben (USA 1967) arbeitete mit den europäischen Stilmitteln des "art movies" und war enorm innovativ. Ihm folgten French Connection - Brennpunkt Brooklyn (USA 1971), Chinatown (USA 1974), Zeuge einer Verschwörung (USA 1974) und Die heiße Spur (USA 1975). Seither haben sich viele Regisseure dem Neo Noir zugewandt, vor allem in den USA und in Frankreich. Nicht wenige unter ihnen haben oft mit bewusstem Bezug auf Elemente der klassischen Ära einzigartige Filme gedreht. So ist etwa Sidney Lumets Tödliche Entscheidung (USA/UK 2007) durch und durch Film-Noir-Kino und lässt sich mit Filmen der Vierziger nur bedingt direkt vergleichen. Der Neo Noir steht in einer Tradition, die er in seinen herausragenden Werken hinter sich lässt und sie somit konsequent weiter führt. “Since neo-noir has become firmly established in the American cinema“, resümiert in seinem Artikel Kill Me Again: Movement becomes Genre der Filmkritiker Todd Erickson, „it is reasonable to assume that audiences will continue to be fascinated with the genre because the noir film communicates to us about our fears and desires more realistically than any other film formula.” (Film Noir Reader, hrsg. von Alain Silver und James Ursini, 1996).
In der Kürze dieser Ausführungen lässt sich die eingangs gestellte Frage - Was ist ein Film Noir? - natürlich nicht beantworten. Die Untermenüs, die sich Stilelementen und Themenkreisen des Film Noirs widmen, sollen daher als Orientierungshilfe dienen, um sich in der Vielzahl der Filme auf DVD und BD besser zurecht zu finden. Sowohl für Kenner der Materie als auch für interessierte Neueinsteiger soll die historische Genese und die aktuelle Verfügbarkeit der Werke des Film Noirs transparenter werden.