Neo Noir
| USA
| 2014
| Paul Thomas Anderson
| Robert Elswit
| Benicio del Toro
| Eric Roberts
| Joaquin Phoenix
| Josh Brolin
| Michael Kenneth Williams
| Katherine Waterston
| Reese Witherspoon
Bewertung
*****
Originaltitel
Inherent Vice
Kategorie
Neo Noir
Land
USA
Erscheinungsjahr
2014
Darsteller
Joaquin Phoenix, Josh Brolin, Owen Wilson, Katherine Waterston, Reese Witherspoon
Regie
Paul Thomas Anderson
Farbe
Farbe
Laufzeit
149 min
Bildformat
Widescreen
© Warner Bros.
Gordita Beach, Los Angeles, 1970: Sortilège (Joanna Newsom) kennt die Geschichte des Privatdetektivs Larry ”Doc” Sportello (Joaquin Phoenix) und Shasta Fay Hepworths (Katherine Waterston) und sie berichtet, was genau sich zutrug… Eines Abends, die beiden waren längst getrennt, tauchte Shasta bei dem Kiffer, der ”Doc” immer gewesen war, plötzlich wieder auf und bat ihn um seine Hilfe. Sie war inzwischen die Geliebte des dubiosen Baulöwen Michael Z. Wolfmann (Eric Roberts), der sich in L.A. hektarweise Grundstücke unter den Nagel riss. Dessen Ehefrau Sloane (Serena Scott Thomas) und ihr eigener Geliebter Riggs Warbling (Andrew Simpson) planten, den exzentrischen Mickey in ein Irrenhaus einliefern und entmündigen zu lassen, wozu sie sich Shastas bedienen wollten. ”Doc” wurde aus den Ausführungen der verängstigten und verwirrten Shasta nicht schlau, die sich von ihm zu ihrem Wagen bringen ließ und davon fuhr. Von Aunt Reet (Jeannie Berlin) hörte er, dass Wolfmann mit Drogen experimentiere und sich von einer rechtsextremistischen, rassistischen Rockerbande beschützen ließe. Und beim Frühstück mit seinem Kumpel Denis (Jordan Christian Hearn) wurde Sportello zugetragen, dass sein Erzfeind Lt. Det. Christian F. “Bigfoot“ Bjornsen nach ihm Ausschau halte. Um die Dinge zu verkomplizieren, tauchte der ex-Häftling Tariq Khalil (Michael Kenneth Williams) in seinem Büro auf. Jener war auf der Suche nach Glenn Charlock (Christopher Allen Nelson), einem von Mickey Wolfmanns Nazi-Leibwächtern…
”It isn't what you're thinking, Doc.” - “Don't worry, thinking comes later.“ Paul Thomas Anderson (Last Exit Reno, USA 1996) inszenierte die Literaturverfilmung von Natürliche Mängel (EA 2009), des siebten Romans des US-amerikanischen Autors Thomas Pynchon. Letzterer ist ein Romancier vom Rang eines Don DeLillo, Kurt Vonnegut jr. oder David Foster Wallace und erhielt für sein Hauptwerk Die Enden der Parabel (EA 1973) den National Book Award. Tomas Pynchons Markenzeichen ist, dass er bis heute nie persönlich in Erscheinung tritt und seit 5 Jahrzehnten eine unsichtbare Größe des US-Literaturbetriebs bleibt. All das sollte man wissen, bevor man sich auf diesen Film einlässt. Denn Paul Thomas Anderson verfilmt Natürliche Mängel sehr akkurat und setzt einen Gegenentwurf zur banalen Thrillertradition des US-Filmbetriebs, die Quentin Tarantino & Co. in den Neunzigern zum Einerlei von Pulp-Geschichten degradierten. Anderson / Pynchon nutzen derlei Elemente, um mit ihnen zu spielen und sie ihren eigenen Zwecken anzuverwandeln, nicht um eine herkömmliche Liebes- oder Kriminalgeschichte zu erzählen. Offenbar reicht das, um ein heutigentags (gerade in Deutschland) längst wieder an konservative Erzählmuster der Fünfziger gewöhntes Publikum vollends zu verunsichern. Denn solche Erzählmuster dienen, um das Unbegreifliche in leicht verdauliche Happen des Selbstverständlichen zu packen, nur eben nicht hier: “Inherent vice in a maritime insurance policy is anything that you can't avoid.“
Mit Blick auf seinen Status in diesem Portal ist Inherent Vice - Natürliche Mängel näher am Film Noir als am Neo Noir und wirkt paradoxerweise genau deshalb einzigartig. Als Privatdetektiv agiert Larry ”Doc” Sportello in der Nachbarschaft von Sam Spade (Die Spur des Falken / Der Malteser Falke, USA 1941), Philip Marlowe (Murder, My Sweet, USA 1944) oder Jeff Bailey (Goldenes Gift, USA 1947). Aber wie der Philip Marlowe in Robert Altmans Der Tod kennt keine Wiederkehr (USA 1973) ist die Figur in eine andere Epoche transformiert, darin die Wesenszüge seines Strebens und Scheiterns zugespitzt erscheinen. Sportello versucht zu verstehen, was nicht zu verstehen ist, versucht wie sein Gegenspieler “Bigfoot“ – zwei dank ihrer Wesensart mit Spitznamen fokussierte Antipoden – Rätsel zu lösen, indessen sich seine Sicht auf die Zusammenhänge im Ganzen immer weiter verrätselt. Arthur Penn hat das in Die heiße Spur (USA 1975) bereits auf die Spitze getrieben; auch in Francis Ford Coppolas Der Dialog (USA 1974) wird der Protagonist Opfer seiner eigenen Paranoia. Letztere war schon immer ein zentraler Aspekt im Werk Thomas Pynchons: die Paranoia als Hauptursache politischen Handelns, als Virus in allen zwischenmenschlichen Nahtstellen und als Leim, der das Geschichtsbild einer Epoche konstituiert. So wirken die Episoden, die Sportello manisch zu einem Ganzen zu fügen versucht, bloß wie Splitter eines von Eruptionen gesellschaftlichen Wahnsinns angefachten Handelns, die der Detektiv, der Polizeibeamte, die Staatsanwältin und die FBI-Agenten gern zu einer verstehbaren Akte der Historie schnürten, was ihnen partout nicht gelingen will. Was Paul Thomas Anderson über die Dauer von 2 ½ Stunden bewerkstelligt, ist ein Epochengemälde und eine Polyphonie von Erzählsträngen, die uns ins Reich der Absurdität entführen, wo es an Humor und auch an Tragik nicht mangelt. Mit Musik von Can, Neil Young, The Association und Minnie Riperton, mit herausragenden Darstellungen von Joaquin Phoenix, Katherine Waterston und Reese Witherspoon und mit dem großen Roger Elswit (Nightcrawler – Jede Nacht hat ihren Preis, USA 2014) hinter der Kamera ist das kein Film für jedermann, aber einer, der Cineasten in Anbetracht der aktuellen Öde in Hollywood wieder hoffen lässt.
Am 25. Juni 2015 erscheint Inherent Vice – Natürliche Mängel via Warner Home Entertainment sowohl als BD auch als DVD, bild- und tontechnisch einwandfrei, ungekürzt im Originalformat, Tonspuren auf Deutsch, Englisch, Französisch und Niederländisch, optional französische Untertitel, den Kinotrailer als Extra.