Lino Ventura, Claudine Auger, Paul Crauchet, Jean Bouise, Nicole Garcia
Barcelona, Spanien: Der französische Seemann Roland Fériaud (Lino Ventura) geht nach zwei Monaten auf See an Land. Mit seiner Reisetasche überquert er das weitläufige Hafengelände und macht sich auf den Weg zum Hotel Colon. Eine Woche will er dort bleiben, denn in drei Tagen kommt seine Frau Sonia (Nicole Garcia) aus Paris. Gemeinsam wollen sie die katalanische Hafenstadt genießen, bevor Fériaud am Samstag nach Australien reisen muss. In der Stadt besorgt er sich französische Zeitungen und besucht einen Friseur… Zur gleichen Zeit verabschiedet sich an einem Bahnhof der in Kurierdiensten tätige Miguel Carrabo (Xavier Depraz) von seiner Ehefrau (Laura Betti), der er zuvor einen Handkoffer überreicht. Indessen sie anderswo wohnen wird, fährt er mit dem Taxi zum Hotel Colon. Carrabo kommt an, erhält das Zimmer 227 und fährt mit dem Aufzug in die entsprechende Etage. Roland Fériaud steht noch kurz neben ihm an der Rezeption, nimmt aber keine Notiz von ihm. Als Miguel Carrabo aus dem Fahrstuhl tritt, ist ein Mann mit Schnurrbart dabei, das Treppengeländer zu putzen, doch der Gast bemerkt ihn nicht. Er geht durch den Flur in sein Zimmer, wo er die Vorhänge aufzieht und soeben telefonieren will, als er feststellt, dass er nicht allein ist… Roland Fériaud verlässt ebenfalls den Fahrstuhl, wird von der Reinigungskraft gegrüßt und geht zu seinem Zimmer mit der Nummer 228. Er möchte nur seine Tasche abstellen, doch im Hinausgehen hört er aus dem Nachbarzimmer ein furchtbares Stöhnen…
Wer Roman Polanskis Frantic (USA 1988) sah, kann auf den Gedanken kommen, dass sich sein Drehbuchautor Robert Towne (Chinatown, USA 1974) nicht zuletzt von Jacques Derays Mord in Barcelona inspirieren ließ. Aber auch Deray bewegt sich mit seiner Verfilmung des Romans The Velvet Well (EA 1946) von John Gearon, der 1973 in Gallimards Série Noire als Le Puits de velour erschien, im Fahrwasser vorhergegangener Werke des Neo Noirs, allen voran Alan J. Pakulas Zeuge einer Verschwörung (USA 1974) und Arthur Penns Die heiße Spur (USA 1975). Im Gegensatz zu Frantic ist diesen Filmen aus den 70er Jahren je eine drastische Schlusssequenz gemeinsam, die sie von jeder Art verwässerter Unterhaltung im Krimiformat deutlich unterscheidet. Weil er sich 1978 damit schon im Widerspruch zum Zeitgeist befand, - Steven Spielberg und George Lucas dominierten das US-Kino mit traditionellen Heldengestalten in effekthascherischen Blockbustern - kam der Film nur in wenigen europäischen Ländern ins Kino und in den USA gar nicht. Hierzulande wurde er als Mord in Barcelona, der wörtlich übersetzte Titel lautet Ein Schmetterling auf der Schulter, erst 1984 im Fernsehen ausgestrahlt. Durch und durch ein Neo Noir ist es höchste Zeit für eine Neubewertung von Jacques Derays ambitioniertem und über weite Strecken famos inszeniertem Drama. Per Zufall wird der Matrose Roland Fériaud mit einer anderen Person verwechselt und gerät ins Fadenkreuz dubioser Interessengruppen, die im Rahmen krimineller oder zumindest geheimer Machenschaften vollends skrupellos agieren. So wie für die Fremden die Identität Fériauds eine andere ist, gerät für den bodenständigen Seemann, sobald er sich als Spielball unbekannter Mächte erkennt und von diesen instrumentalisiert wird, sein Weltbild aus den Fugen. Erst schränken sie seine Freiheit ein, dann bedrohen sie ihn und seine Frau Sonia, schließlich wird er erpresst. Mindestens eine der Gruppen wähnt ihn im Besitz eines Koffers, von dem Fériaud de facto nichts weiß.
"Mord in Barcelona besticht nicht zuletzt durch eine mysteriöse Atmosphäre, eine elegant bewegte Kamera, kunstvolle Schnitte und eine kongeniale Musikuntermalung“, schlussfolgert Dieter Wunderlich in der einzigen zur Zeit online auffindbaren Rezension dieses Films. Tatsächlich bleibt die Dramaturgie straff bis zuletzt und die Regie stets punktgenau fokussiert. In jeder Sequenz hat man den Eindruck, Autor und Regisseur wissen, was sie wollen. Allerlei Nebenfiguren, so kurz sie auch eingeführt sind, spielen in dem verwinkelten Rätselspiel eine Rolle, von denen Fériaud und die Zuschauer trotz aller Bemühungen aber keine Vorstellung gewinnen. Man erkennt, dass der wackere Seemann von einigen Leuten keine Notiz nimmt, sie schlicht übersieht, indessen er andere für einen Ausweg aus seinem Dilemma zu nutzen hofft. Roland Fériaud ist die Fliege im Netz der Spinne - jede seiner Bewegungen scheint ihn noch mehr in eine ausweglose Situation zu verstricken. Über die 33 Jahre seiner Zeit als Schauspieler hat Lino Venturas Darstellungskunst eine subtile Eleganz und eine Präzision entwickelt, die schlicht zeitlos sind. Seine Verkörperung des einfachen Mannes in Nöten ist nicht zu überbieten. Mit Jacques Deray und Jean Bouise hatte Ventura schon in Die Haut des Anderen (FRA/ITA 1966) zusammen gearbeitet, den exquisiten Charakterdarsteller Paul Crauchet kannte Ventura durch Der Kommissar und sein Lockvogel / Die letzte Adresse (FRA/ITA 1970). Trotz minimaler logischer Schwächen ist Mord in Barcelona allen Freunden des Erzählkinos jener 70er Jahre und allen Liebhabern europäischen Neo Noirs unbedingt zu empfehlen.
Gute deutsche DVD-Ausgabe (2015) von Gaumont via Indigo mit dem Film ungekürzt im Originalformat, bild- und tontechnisch solide, dazu die original französische Tonspur und die deutsche TV-Synchronisation, leider ohne Untertitel, was ein Manko ist, und mit dem französischen Kinotrailer als einzigem Extra. Außer einer französischen Edition (2014) als BD und DVD gibt es den Film allerdings nirgendwo, insofern kann man über die deutsche Ausgabe allemal froh sein.
Mord in Barcelona
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Ich kann mich der Kritik hier nur anschließen. Ein äußerst gelungener Film, vor allem atmosphärisch sehr gekonnt gemacht. Jede Kleinigkeit wirkt realistisch und hat dadurch eine unglaublich starke Anziehungskraft beim Verfolgen der Szenerie. Statistik und Aussenaufnahmen super gelungen, die diese Atmosphäre so realistisch erscheinen lassen. Da merkt man, dass Handwerk zur Kunst wird. Natürlich auch Lino Ventura als Hauptdarsteller brillant. Äußerst empfehlenswerter Film.