Neo Noir
| France
| 1972
| Jean-Pierre Melville
| Alain Delon
| Jean Desailly
| Paul Crauchet
| Richard Crenna
| Catherine Deneuve
Bewertung
****
Originaltitel
Un flic
Kategorie
Neo Noir
Land
FRA/ITA
Erscheinungsjahr
1972
Darsteller
Alain Delon, Catherine Deneuve, Richard Crenna, Ricardo Cucciolla, Michel Conrad
Regie
Jean-Pierre Melville
Farbe
Farbe
Laufzeit
95 min
Bildformat
Widescreen
Der an der Atlantikküste gelegene Badeort Saint-Jean-des-Monts am Donnerstag, den 23. Dezember, später Nachmittag. Leer liegen die Ferienwohnungen der Apartmentblocks, verwaist sind Straßen und Parkplätze, stürmischer Wind und Regen peitschen über die Balkone. Eine Limousine kommt die Straße hinab, vier Männer in Mänteln und Hüten sitzen darin. Der Wagen hält in einiger Entfernung einer Filiale der Banque Nationale de Paris. Zuerst steigen Marc Albouis (André Pousse) und Simon (Richard Crenna) aus und begeben sich in die Bank, wo sie jeweils an einem der Stehpulte so tun, als füllten sie Formulare aus. Dann folgt der ehemalige Bankdirektor Paul Weber (Riccardo Cucciola). Louis Costa (Michel Conrad), ihr Fahrer, wartet im Wagen. Nachdem der Kassierer die Jalousien herabgelassen hat, es ist kurz vor Schließzeit, ziehen die drei Sonnenbrillen auf und überfallen die Bank. Doch während die Angestellten Banknoten in zwei Säcke füllen, löst der Kassierer Alarm aus, ergreift eine Pistole und verwundet Albouis schwer. Die vier fliehen im Auto, müssen einen der Geldsäcke zurücklassen und fahren zum nächsten Bahnhof. Dort steigen alle bis auf Simon aus, wobei sie den Verwundeten stützen, und kaufen drei Fahrtkarten nach Paris. Sie betreten den Zug aber nur zum Schein. Auf der der gegenüber liegenden Seite der Gleisanlage wartet Simon bereits in einem anderen Wagen, und nun geht es flugs nach Paris… Kommissar Edouard Coleman (Alain Delon) und sein Assistent Morand (Paul Crauchet) fahren durch die abendlichen Straßen von Paris. Seine Arbeit in der Metropole, so weiß Coleman, beginnt immer dann, wenn die meisten Menschen der Stadt sich zur Ruhe begeben…
Der Chef ist nicht nur der letzte Film Jean Pierre Melvilles, es ist auch einer der letzten Gangsterfilme in der Tradition der Fünfziger und Sechziger, die seinerzeit mit Jacques Beckers Wenn es Nacht wird in Paris (FRA 1954) und Jules Dassins Rififi (FRA 1955) begann. Doch ist er einerseits ein Vertreter der alten Erzählschule des französischen Films, – Überfälle in Realzeit ohne Musik, dafür ein grandioser Spannungsaufbau! –so ist er anderseits das Ergebnis einer durch Melville in über 20 Jahren betriebenen Erneuerung. Die Schnittfolge und die Kameraarbeit sind grandios. Obgleich das Tempo der Erzählung an keiner Stelle hektisch ist, wird ab der ersten Minute konsequent ein Spannungsbogen aufgebaut und bis zur letzten durchgehalten. Es ist genau, womit sich Jean-Pierre Melville einmal mehr als nahezu unerreichter Meister seines Fachs erweist. Dieser Film hat Klasse, daran lässt schon die erste Einstellung keinen Zweifel, denn Melvilles Werk lebt nicht nur vom stets erstklassigen Casting sondern auch von einer präzisen Wahl der Schauplätze. Der mit dem Regisseur vertraute Cineast wird eine Reihe Darsteller wiedererkennen, die auch andere Neo-Noir-Klassiker Melvilles bereicherten – Alain Delon, Paul Crauchet oder Jean Desailly. Aber auch die Wahl Catherine Deneuves und die der US-Amerikaner Richard Crenna und Michael Conrad erweisen sich als Glücksgriff. Melvilles Kamera inszeniert ihre Gesichter mit sicherem Gespür für deren jeweils individuelle Qualitäten. In einer Szene, da sich Conrad und Delon gegenüber stehen, erinnert der Amerikaner wohl nicht zufällig an Lee Marvin in John Boormans Point Blank – Keiner darf überleben (USA 1967).
Un flic (Originaltitel) heißt in der wörtlichen Übersetzung Ein Bulle, das ist ein triftiger Titel, demgegenüber Der Chef irreführend ist. Thematisch schließt Melville an seine eigene Film-Noir-Tradition an: Freundschaft und Loyalität vs. Pflicht und Verrat, die Liebe der Geschlechter in ihrer romantischen Idealität als eine nicht lebbare Utopie. Die Filmhandlung steht exemplarisch für jede menschliche Existenz, die nach Gewinn strebt und am Ende stets im Verlust endet. Melvilles Welt ist vom Nihilismus gezeichnet, jener liegt tief in der Struktur einer von Menschenhand zivilisierten Welt und kommt in Charakteren zum Ausdruck, die sich dagegen zur Wehr setzen – die Raffinesse der Verbrecher und die Klugheit der Kriminalpolizei als Spielkomponenten typisch französischer Prägung – und genau deshalb unhaltbar darin verstricken. Der Chef reicht trotz selbstsicher ausgespielter Stärken nicht ganz an Melvilles Meisterwerke heran, etwa Vier im roten Kreis (FRA/ITA 1970) oder Der Teufel mit der weißen Weste (FRA/ITA 1962). Dass der Überfall auf einen fahrenden Zug via Helikopter, ein zentraler Moment des Films, offensichtlich mit Modellen bzw. im Studio inszeniert wurde, trübt den Genuss. Auch die Freundschaft von Simon und Coleman sowie dessen Verhältnis zu und mit Cathy (Catherine Deneuve) hätte ein, zwei zusätzlicher Szenen bedurft. Dennoch ist Der Chef ein unbedingt empfehlenswerter Neo Noir jener frühen Siebziger, der den Meisterregisseur Jean-Pierre Melville ein letztes Mal in seiner ganzen Eigenart präsentiert.
Erstklassige DVD-Ausgabe von Arthaus / Studiocanal (2012): ungekürzt im Originalformat, wahlweise deutsche oder französische Tonspur, optional deutsche Untertitel, dazu ein Interview mit Jean-Francois Delon als Extra.