Frederick Lau, Laia Costa, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff
Berlin um vier Uhr morgens: In einem Club tanzt die junge Spanierin Victoria (Laia Costa), die seit drei Monaten in der Stadt lebt, bis tief in die Nacht zum Technobeat des DJs. Vom Barkeeper (Eike Frederik Schulz) lässt sie sich zum Abschluss einen Wodka geben, bevor sie nach draußen zu ihrem Fahrrad will. Im Eingangsbereich des Clubs sind die Berliner Twens Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski) und Blinker (Burak Yigit) darum bemüht, mit ihrem betrunkenen Kumpel Fuß (Max Mauff) dessen Geburtstag zu feiern, doch der Türsteher verweigert ihnen den Einlass. Sonne spricht Victoria auf Englisch an, welche die Chaoten amüsant findet, und draußen auf der Straße findet die Unterhaltung ihre Fortsetzung, indem sich alle der jungen Frau vorstellen. Erst will sie deren Spitznamen so wenig glauben, wie die Tatsache, dass ihnen eine US-Limousine aus den 60er Jahren gehört, wie Sonne behauptet, bis deren Besitzer die Gruppe barsch darauf hinweist, sich von seinem Wagen fernzuhalten… Victoria lässt sich von den Jungs überreden, noch mit ihnen durch die Nacht zu ziehen. Boxer schwingt sich auf Victorias Fahrrad, die Anderen schlagen vor, noch ein Bier zu trinken und den Geburtstag von Fuß andernorts zu feiern. In einem Spätkauf schläft dessen Besitzer tief, der laut Sonne ein Freund von ihm sei, indessen er und Victoria mehrere Flaschen Bier und eine Tüte Erdnüsse mitnehmen. Dann betreten die fünf ein Gebäude, darin sie mit dem Aufzug bis in den obersten Stock fahren, wo eine Leiter durch eine Luke sie aufs Flachdach führt….
“I like the devil.” - “Yeah, me too.” Sebastian Schippers Film erscheint mir im Nachhinein eine lange Replik auf jenen Großmeister klassischen Theaters, William Shakespeare, in dessen The Comedy Of Errors (EA 1595) es bekanntermaßen heißt: “Marry, he must have a long spoon, that must eat with the devil.“ Oder in der deutschen Übertragung: „Nun, mein’ Seel’, der braucht einen langen Löffel, der mit dem Teufel isst.“ Auch Victoria ist gewissermaßen eine Komödie der Irrungen, eine die geradezu ins tiefe Tal der bitteren Konsequenzen führt, die aus ihnen erwachsen. Wenn Victoria in jenem Café, wo sie eine Arbeit als Kellnerin fand, dem Berliner “Sonne“ Franz Liszts Mephisto-Waltzer vorspielt, ganze 16 Jahre war sie in Spanien eine hoffnungsvolle Klavierschülerin am Konservatorium, ist der Zuschauer Zeuge einer Schlüsselszene. Nach 40 Minuten wandeln sich der Ton und damit die Atmosphäre jener Berliner Nacht, die erst jetzt, zum Morgen hin der ihr eigenen Dunkelheit gewahr wird. Der leichtlebige Teenager entpuppt sich als eine Frau, die längst weiß, dass sie im Alter von 12 Jahren die Eierschalen der Kindheit abgestreift hatte und am Ort der heiligen Disziplin und des Strebens nach Vollkommenheit in der Musik keine Freunde sondern nur Gegner fand. Und dass wir, die Zuschauer, jenen Eindruck von uns als Zeugen und nicht als Konsumenten haben, darin spiegelt sich die Qualität dieses genuin im Theater verhafteten Bühnenstücks als Film. Als eine „Wahnsinnstat“ bezeichnete die deutsche Zeitschrift Intro Schippers in einem einzigen Take von 135 Minuten gedrehten Thriller und nicht als Wahnsinnsfilm. Dabei liegt der vermeintliche Irrsinn ja im Verzicht auf das in einem Jahrhundert Filmgeschichte entwickelte Equipment, das der Kinofilm heutigentags für seinen Kunstraum als Voraussetzung beansprucht - Busladungen von Technikern und Lastwagen voller Hochtechnologie. Sebastian Schipper nahm eine einzige Handkamera und folgte seinen Schauspielern über ihre Bühne, das nächtliche Berlin. Victoria verhält sich damit zur Unterhaltungsindustrie wie einst der Punk der Sex Pistols und Damned zum virtuosen Bombast von Genesis und Pink Floyd. Doch wer so hoch hinaus will, riskiert viel. Den Autoren und dem Regisseur aber glückte mit Victoria, wofür sie sich nicht auf ihr Glück verließen.
© Wild Bunch Germany GmbH
“Victoria’s bipolar blend of romance and film noir fuse together to make one of the more intriguing cinematic experiments in recent memory”, schlussfolgert Danilo Castro für Taste of Cinema in seinem Artikel The 10 Best Neo-Noir Films of The 2010s (So Far). Dabei ist die Romantik seit jeher essentieller Bestandteil klassischen Film Noirs und auch hier einer der Handlungstreiber, darin die Härte und die Tragik der Ereignisse in Victorias zweiter Hälfte so schmerzhaft angelegt ist. Der Film hat eine starke Empathie für seine Figuren, die er einprägsam zu gestalten weiß. Zumal in dem zu Beginn geruhsamen Lauf der Ereignisse nichts forciert oder vorhersehbar wirkt. Doch sobald die eingangs harmlose nächtliche Begegnung die Beteiligten unerwartet zu einem Verbrechen und zur Flucht führt, gerät Victoria zu einer Tour de Force. Dass ihm das mittels Rückbesinnung auf Stilmittel des Theaters gelingt, hebt ihn aus dem Einerlei der durch technische Standards definierten Kinofilme hervor. Zugleich bin ich sicher, dass Victoria keine Schule machen wird. Dieser Film ist einmalig und so sollte es bleiben. Außer vom norwegischen Kameramann Sturla Brandt Grøvlen profitiert er von seinem Ensemble, das neben Burak Yigit, Max Hauff und Frank Rogowski mit Frederik Lau und der Spanierin Laia Costa eine Besetzung bietet, die es auf den Punkt bringt. Victoria wurde 2015 sechsfach mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet und gewann bei den Berliner Filmfestspielen 2015 den Silbernen Bären für die beste Kamera. Ganz sicher kein Film für Jedermann! Aber wer sich darauf einlassen kann und wer bis zum Ende durchhält, wird - und ich sage das selten - mit einem Meisterwerk belohnt.
Exzellente BD- und DVD-Editionen (2015) der Wild Bunch Germany mit dem Film ungekürzt im Originalformat, die original Tonspur, darin sich Englisch und Deutsch im Minutentakt abwechseln, dazu deutsche, englische oder auch deutsch-englische Untertitel, dazu einen Audiokommentar von Sebastian Schipper, Interviews mit Schipper und Lau, Kameratest, Kinotrailer und Castingszenen als Extras. Unbedingt zu empfehlen!