Neo Noir
| International
| 2003
| Jef Geeraerts
| Erik Van Looy
| Filip Peeters
| Jan Decleir
| Koen De Bouw
Bewertung
****
Originaltitel
De zaak Alzheimer
Kategorie
Neo Noir
Land
BEL/NL
Erscheinungsjahr
2003
Darsteller
Jan Decleir, Koen De Bouw, Werner De Smedt, Hilde De Baerdemaeker, Gene Bervoets
Regie
Erik Vaan Loy
Farbe
Farbe
Laufzeit
118 min
Bildformat
Widescreen
Antwerpen, 1995: Polizeikommissar Eric Vincke (Koen De Bouw) arbeitet als verdeckter Ermittler, um einen Kinderpornoring auszuheben. In der Wohnung des Cafébesitzers Cuypers (Dirk Roofthooft) kommt er mit dessen 12jähriger Tochter Bieke (Laurien Van den Broeck) zusammen, die ihr Vater an Pädophile vermietet, denen er glaubt vertrauen zu können. Doch bei Annäherung Biekes entdeckt sie Vinckes unterm Pullover versteckten Sender und ruft ihren Vater zu Hilfe. Im Glauben, er sei in Gefahr, stürmen Vinckes Kollegen in die Wohnung Cuypers’, der sich seine Tochter greift und ihr einen Revolver an die Stirn hält. Als er Vincke bedroht sieht, erschießt dessen Kollege Freddy Verstuyft (Werner De Smedt) Cuypers in Notwehr. Die schockierte Bieke wird von der Polizistin Linda de Leenheer (Hilde De Baerdemaeker) aus dem Haus geführt. Acht Tage später in Marseille: Gangster Gilles Resnais (Patrick Descamps) speist mit dem alternden Berufskiller Angelo Ledda (Jan Decleir) auf einer Restaurantterrasse über den Dächern des Hafens. Ledda soll für ihn nach Antwerpen reisen, weil er Stadt und Land gut kennt, doch der Killer ist müde und hasst Belgien. Dennoch fährt er mit dem Zug hin und mietet sich in einem Hotel ein, wo er an der Bar die Prostituierte Anja (Deborah Ostrega) kennen lernt. Er trifft sich mit seinem Kontaktmann Seynaeve (Gene Bervoets), der ihm die Unterlagen für zwei Auftragsmorde aushändigt und feststellen muss, dass der verschlossene, wortkarge Ledda fließend Flämisch spricht…
Der Film lief in Deutschland nie im Kino, was mit Blick auf seine Qualität und die deutsche Kinolandschaft unverständlich ist, wahrscheinlich aber mit den hierzulande kaum bekannten Darstellern und dem ebenfalls nicht für seine Filmkultur bekannten Herkunftsland Belgien zu tun haben wird. Unter den Titeln Totgemacht - The Alzheimer Case (2004) und dann Lost Memory - Killer ohne Erinnerung (2005) erschien er in Deutschland via Sunfilm zweimal als DVD. Diese Namen sind frei erfunden, sie haben auch mit dem US-Verleihtitel The Memory Of A Killer von Sony Picture Classics nichts zu tun. In Deutschland hatte der Film im August 2004 auf dem Hamburger Fantasy Filmfest als Mörder ohne Erinnerung seine Erstaufführung; unter dem Titel wird er seither deutschlandweit in Webforen und in der Presse geführt, daher nun auch hier. Erik Vaan Loys Verfilmung des 1985 erschienen Romans De zaak Alzheimer von Jef Geeraerts, Belgiens international renommiertem Kriminalschriftsteller, ist eins der wenigen Beispiele für einen hochwertigen, europäischen Neo Noir außerhalb Frankreichs – zumindest mit Blick auf die letzten 10 Jahre Filmgeschichte. Der desillusionierte, skrupellose und einsame Killer Angelo Ledda ist eine klassische Film-Noir-Figur und erinnert an Lino Ventura in Der Panther wird gehetzt / Volles Risiko (FRA/ITA 1960) oder an Alain Delon in Vier im roten Kreis (FRA/ITA 1970). Weil er an Morbus Alzheimer erkrankt ist und sich durch den eigenen Gedächtnisverlust real bedroht weiß, ergibt sich automatisch (eine in der Referenz z.T. auch schön bebilderte) Assoziation zu Christopher Nolans Memento (USA 2000) und paradoxerweise auch zum mit dem absoluten Gedächtnis ausgestatteten Tierpräparator Esteban Espinosa (Ricardo Darin) in Fabián Bielinskys grandiosem Neo Noir El aura (ARG 2005).
Eine auch technisch überzeugende Montage lässt die Zuschauer an den Rückblenden in Leddas Kopf teilhaben, sobald er sich anstrengen muss, die letzten Minuten zu memorieren. Zugleich gibt ihm seine Krankheit ein Mittel zur Täuschung an die Hand, worin sich Angelo Ledda seit seiner Jugend eh als findig erwies. Er ist ein Charakter mit einer dunklen Vergangenheit, deren Geheimnisse der Film nach und nach entschlüsselt, indessen die von Korruption und Bigotterie verfilzte Riege der belgischen Oberschicht ins Visier der Ermittlungen gerät. Viele Szenen spielen bei Nacht, oft regnet es und auch sonst zeigen sich Antwerpen und Belgien in düsteren Grau- und Blautönen. Nora Lee Mandel, Mitglied der New York Film Critics Online, schreibt bei Noir Night Out: “There's the opening shots of a steam engine, saluting European film noir contrasting with the sharp sunlight of corrupt Marseille; the Georges Simenon-like police investigation contemporized with gritty Brit mystery crimes and the hunky bantering buddy cops(…)” Letzteres war für mich eine Schwäche, solches an TV-Serien erinnernde Polizistenduo, das immer ein wenig zu flink mit Schlussfolgerungen daher kommt. Zudem erweist sich das Finale - hier wird nach Hollywood bzw. nach Hongkong geschielt – ein wenig überblasen. Dennoch ist Mörder ohne Erinnerung ein klasse Neo Noir mit einer relevanten Geschichte, stilsicher inszeniert und exzellent gespielt. Sehenswert!
Beide DVD-Editionen (2004 und 2005) von Sunfilm sind trotz ihrer verwirrenden Titel und der ästhetisch wenig gelungenen Aufmachung technisch hervorragend: mit 118 Minuten wird die ungekürzte Kinofassung geboten (auf IMDB ist ein 135 Minuten langer Director’s Cut erwähnt, den es auf DVD aber nirgendwo gibt), im Originalformat und mit der deutschen und der flämisch-französischen Tonspur, optional deutsche Untertitel, ein Behind The Scenes, den Kinotrailer, etc. als Extras.