Charlotte Rampling, Gabriel Byrne, Eddie Marsan, Jodhi May, Ralph Brown
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London, England: Auch jenseits ihrer 60 Jahre besucht die in Scheidung lebende Anna Welles (Charlotte Rampling) zum wiederholten Mal unterm Pseudonym “Allegra“ einen Single-Abend im Hilton-Hotel. Die vor Ort zuständige Mitarbeiterin heißt Louise (Carolyn Catz) und ging davon aus, dass Anna solches Speed-Dating als deprimierend erlebe und nicht wiederkäme. Tatsächlich ist Anna schüchtern und gehemmt, auch empfindet sie die meisten der anwesenden Männer als wenig anziehend. Auf der Toilette trifft sie vor dem Waschbecken die nochmals ältere Joan (Honor Blackman), die ihr nahelegt sich nicht so hängen zu lassen. Schließlich habe man im Alter nichts verlernt, was die Dinge der Liebe angeht. An der Bar lernt Anna kurz darauf bei einem Glas Champagner George Stone (Ralph Brown) kennen und sie stoßen miteinander an… Um 5 Uhr am Morgen steht Mr. Green in seiner Küche und sieht von der flackernden Glühbirne der Deckenlampe Wasser tropfen. Er beschließt im darüber liegenden Stockwerk nach dem Rechten zu sehen, denn wahrscheinlich wird es von dort durch die Decke gelangt sein. Zur gleichen Zeit ist Detective Chief Inspector Bernie Reid (Gabriel Byrne) übermüdet auf dem Weg in jenes Hotel, das ihm nach der Trennung von seiner Frau als Zuhause dient. Nachdem er sich in einem Nachtcafé die Morgenzeitung und ein Brötchen holte, kehrt er just in dem Augenblick zu seinem Wagen zurück, als der Polizeifunk im unmittelbar in der Nähe gelegenen Ink Building einen Todesfall meldet…
Ein deutscher Kritiker monierte, dass man in dem Mordfall dieses Thrillers von Anbeginn den Täter kenne, was nicht zutrifft, und schon seine Inhaltsangabe folgte nicht der verschachtelten Erzählweise mit ihren verschobenen Zeitebenen und vielen Rückblenden. Auch ist der Film keine 93 Minuten lang, die Angabe auf der Rückseite der deutschen DVD der EuroVideo Bildprogramm GmbH ist falsch, sondern lediglich 87 Minuten. I, Anna ist die zweite Verfilmung des gleichnamigen und einzigen Romans (EA 1984) aus der Feder der in New York lebenden Psychoanalytikerin Elsa Lewin. Die erste hieß Solo für Klarinette (GER 1998) und stammte von Nico Hofmann; ihr Titel folgte der Übersetzung des Buches, das erstmals 1989 im Rotbuch-Verlag auf Deutsch erschienen war. Die in London angesiedelte Handlung der zweiten Adaption trägt den Originaltitel, doch jener ist für einen Neo Noir, dessen Thrilleranteile sich in Grenzen halten, nicht unbedingt aussagekräftig. Barnaby Southcombe ist der Sohn von Charlotte Rampling, die hier als 65jährige die Rolle der Femme fatale übernimmt. Ein gewagtes Unterfangen, möchte man meinen, aber es gelingt. Ihr steht der 61jährige Gabriel Byrne, der seinerseits eine überzeugende Leistung abliefert, in der Rolle des in einem Mord ermittelnden Polizisten zur Seite. I, Anna ist über weite Strecken großes Schauspielerkino dieser zentralen Akteure, denen wiederum Eddie Marsan, Max Deacon und Hayley Atwell kompetent beigeordnet sind. Die Handlung läuft auf weit mehr hinaus, als nur den Todesfall im Ink Building aufzuklären, und längst nicht alles davon ist Teil der Polizeiarbeit. Zugleich ist die Logik, wie sowohl Detective Inspector Kevin Franks (Eddie Marsan) als auch Bernie Reid sich aus verschiedenen Richtungen schließlich der Wahrheit nähern, stimmig und glaubwürdig.
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„Highlighting the film noir elements (…), Southcombe’s screenplay transposes the action to gray high-rises on the edge of a somber cityscape“, schreibt Deborah Young für The Hollywood Reporter und liegt damit genau richtig. Neben der Femme fatale mit ihrer dunklen Vergangenheit und dem Polizisten, der ihr mehr als nur zugeneigt ist, - Richard Quines Schachmatt (USA 1954) oder Paul Verhoevens Basic Instinct (FRA/USA 1992) sind deutlich verwandt - ist es die Großstadt, die eine wichtige Rolle übernimmt. Über alle Generationen des Dramas hinweg trägt sie ihrerseits einen Anteil an der Entfremdung und Vereinsamung der Protagonisten, die als Unbehauste in der Metropole herumirren - in anonymen Hotelzimmern, durch deren Panoramafenster London stets präsent bleibt, oder in Wohnungen, die einem Leben in der Vergangenheit und nicht ihnen gehören. Im Vergleich zur überhitzten Erotik in Solo für Klarinette und natürlich ihrem Alter gemäß ist die Beziehung zwischen Reid und Welles von leisen Tönen und subtilen Gesten gekennzeichnet und das bekommt dem Film. Wie die beiden Darsteller im Zentrum das umsetzen, ist per se ein Genuss. I, Anna gelingt es nicht, alle Fäden, die der Film aufnimmt, auch fortzuspinnen. Die Geschichte der Familie Stone bleibt irgendwo hängen und stagniert, auch diejenige der Familie Matheson lässt zuletzt mehr erahnen als wissen. Zwischen Neo Noir und europäischem Arthaus-Kino nimmt Southcombes Drama dennoch unaufgeregt stilsicher seinen Platz ein und besticht durch ein dunkles und kompromissloses Understatement.
Exzellente DVD-Edition der EuroVideo Bildprogramm GmbH (2013) mit dem Film ungekürzt im Originalformat, dazu die original englische und eine deutsche Tonspur, optional deutsche Untertitel, ein Making of, mehrere Interviews und den Kinotrailer als Extras.