Neo Noir
| USA
| 2011
| Hossein Amini
| Nicolas Winding Refn
| Newton Thomas Sigel
| Albert Brooks
| Bryan Cranston
| Oscar Isaac
| Ron Perlman
| Russ Tamblyn
| Ryan Gosling
Bewertung
****
Originaltitel
Drive
Kategorie
Neo Noir
Land
USA
Erscheinungsjahr
2011
Darsteller
Ryan Gosling, Carey Mulligan, Bryan Cranston, Christina Hendricks, Ron Perlman
Regie
Nicolas Winding Refn
Farbe
Farbe
Laufzeit
96 min
Bildformat
Widescreen
Von einem Apartment blickt der Fahrer (Ryan Gosling) über das nächtliche Los Angeles, auf dem Tisch eine Straßenkarte und auf dem Bett eine gepackte Reisetasche. Am Telefon weist er seine Auftraggeber darauf hin, dass sie eine Minute Zeit hätten, um den Fluchtwagen zu erreichen und dass er ihnen mehr nicht einräume. Dann begibt er sich in die Garage von Shannon (Bryan Cranston), der ihm einen unauffälligen, geradezu spießigen Wagen als Fluchtfahrzeug präpariert hat – einen 300 PS starken Motor unter der Haube. Der Fahrer fährt zum Tatort, wo die Einbrecher (Kenny Richards, Craig Baxley jr.) bei seiner Ankunft ans Werk gehen. Lange Sekunden vergehen, bis endlich auch der Zweite wieder aus der Lagerhalle draußen ist, schon ist der Einbruch via Polizeifunk bekannt gegeben. Doch der Fahrer schafft es, sich aus der ruhigen Gegend unauffällig auf eine Schnellstraße zu schmuggeln, bis ihn schließlich doch ein Helikopter erspäht. Als sich die Flüchtigen schon fast auf der sichern Seite wähnen, werden sie zufällig an einer Ampel von einem Streifenwagen entdeckt. Doch der Fahrer entkommt in eine Parkgarage, wo zahlreiche Fans eines Footballspiels unterwegs sind, und er macht sich in der Menge unerkannt zu Fuß aus dem Staub. Als er nach Hause kommt, begegnet er im Parkhaus kurz Irene (Carey Mulligan), bevor er in seinem Apartment die Reisetasche aufs Bett wirft und sich auf den Weg in seinen Alltag begibt…
Das ist ein guter und streckenweise exzellenter Neo-Noir-Thriller, der die Tradition des Erzählkinos in die Gegenwart des Jahres 2011 katapultiert und seine Überlegenheit über das zeittypische, sinnfreie Special-Effects-Spektakel demonstriert. Denn Drive ist trotz einer lässigen und auf seine Charaktere fokussierten Geschichte ein spannender, dynamischer Film. An überraschenden Stellen schaltet der Regisseur einen Gang höher oder lässt urplötzlich die rohe Gewalt in den Alltag der Personen einbrechen. Drive kann mit einem Ensemble aufwarten, bei dem nicht nur die Hauptdarsteller, Ryan Gosling als namenloser Fahrer und Carey Mulligan als Irene, durch ihr subtiles Spiel angenehm auffallen. Mit Ron Perlman (Romeo Is Bleeding, USA/UK1993) und Albert Brooks (Taxi Driver, USA 1976) als Duo der Fieslinge bringt Refn zwei Visagen wie aus einem Sam-Peckinpah-Thriller - etwa Getaway (USA 1972) mit Steve McQueen. Auch der war als Doc McCoy ein irre cooler Fahrer, Gangster, Liebhaber, und Coolness ist ein Thema hier. Ryan Goslings Understatement symbolisiert die Coolness des einsamen Wolfs, - raue Schale, weicher Kern - der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. So wird er für die Zuschauer zur Identifikationsfigur - ein Mann, der seine Probleme zu lösen versteht, und dessen Beschützerinstinkt gegenüber einer Mutter und ihrem Kind von einem blütenweißen Innenleben zeugt. Die Vorankündigung für den US-Kinostart im September 2011 - inspiriert von dem hier verwendeten, furchtbaren Song A Real Hero der Band College - brachte dazu den dämlichen Spruch: “Some heroes are real“. Dass Nicolas Winding Refn mit seinem stimmigen Finale dieser Eintrübung nicht verfällt, sondern einen konsequent glaubwürdigen Schluss präsentiert, ist Autor und Regisseur wiederum anzurechnen. Nein, trotz Coolness und Lonesome-Wolf-Attitüde ist Drive nicht der übliche Hollywood-Schmus, kein Thriller-Kino von der Stange.
Drive entstand nach dem gleichnamigen Roman von James Sallis. Er ist kein Remake des Neo-Noir-Thrillers Driver (USA/UK 1978) von Walter Hill mit Ryan O’Neal als namenlosem Fahrer, der bei Raubüberfällen das Fluchtfahrzeug durchs nächtliche Los Angeles lenkt. Vieles war dort schon vorweg genommen, - u.a. ein nahezu identischer Beginn des Films - vor allem ist auch Ryan O’Neal in Driver wortkarg und cool, die Vorbildfunktion für Refns Werk ist unübersehbar, nicht zuletzt, was die Retro-Attitüde des in die Spätsiebziger / Frühachtziger schielenden Drive angeht. Nicolas Winding Refns Film ist der wohl erfolgreichste Neo Noir der letzten 10 Jahre. Nachdem Kritiker und Zuschauer nicht müde werden, darauf hinzuweisen, wie vieles in Drive inhaltlich und stilistisch (vor allem mit Blick auf die Fotografie durch Kameramann Newton Thomas Sigel) herausragend sei, fällt auf, dass vergleichbar gutes Neo-Noir-Kino offenbar kaum bekannt ist. Sicher, Drive beweist in vielen Registern seine Klasse, doch Werke wie Memories Of Murder (KOR 2003), El aura (ARG 2005) oder Gone Baby Gone – Kein Kinderspiel (USA 2007) stehen Refns Überraschungserfolg im Grunde nicht nach. Möglicherweise war der romantische Appeal, die gute Chemie zwischen den Hauptdarstellern, oder der elektronische Retro-Soundtrack (doofe Songs = zuckersüßer 80er-Pop, nur für Cliff Martinez standen frühe Tangerine Dream, Human League, etc. Pate) oder die schnörkellose Geschichte das Zünglein an der Waage. Drive ist ein Film, den man gesehen haben sollte, sofern man sich vor der plötzlichen Gewalt (FSK 18 ist berechtigt) nicht scheut, und ggf. sorgt er mittelfristig für mehr Popularität des Neo-Noir-Films im Allgemeinen.
Erstklassige BD- oder DVD-Ausgabe (2012) der Universum Film GmbH, München, ungekürzt im Originalformat, deutsche oder englische Tonspur, deutsche oder englische Untertitel, dazu 93 Minuten Bonusmaterial: Making Of, Kinotrailer, Interviews mit Darstellern und mit der Crew, etc. pp. Rundum zu empfehlen!
Ein eiskalter Guss mit unkommerziellen Einschlägen.
Neben der grandiosen Besetzung wirkt das Werk in seiner Bild- und Musikästhetik schon beinahe zu glatt und perfekt geformt. Die Bilder werden nicht nur von der Musik getragen, sie ergeben zusammen eine Symbiose, die den Zuschauer beinahe alleine fesselt. Für sich alleine würden viele Szenen ohne den jeweiligen Partner nicht diesen hypnotischen Effekt erzielen. „Drive“ hat seinen Motor also gut geölt, er bedient sich der Medienmacht, den Stars und seinen leidlichen Gesetzmäßigkeiten um wirklich erfolgreich zu sein. Dennoch: Nicolas Winding Refn schlägt mit einem Vorschlaghammer der Gewalt absichtlich ein paar große Dellen in die kommerzielle Chrome-Ebene hinein. Dadurch tritt sein Film aus, wie ein unberechenbares Pferd, sorgt aber gleichzeitig für zusätzlichen Gesprächsstoff.
Vom Frosch und dem Skorpion.
Nino (Ron Perlman) bringt es auf dem Punkt: „Das ist irgendwie nicht so Dein Ding“. Aus Spiel wird Ernst. Der Namenlose zögert für einen Augenblick, zweifelt an sich selbst und seinen Möglichkeiten. Er ist nicht in seinem sicheren Wagen, das hier ist kein Film, keiner seiner Stunts. Der „Driver“ steht sinnbildlich als Jugendlicher an der Schwelle zum Erwachsenwerden, aus Verantwortung wächst die Konsequenz. Jeder bekommt was er verdient. Wie in der bekannten Parabel zeigen die Menschen hier ihre wahre Natur, ja selbst der Filmemacher kann scheinbar nicht aus seiner Haut, wenn es über den Fluss geht.
Die Tür Noir ist offen.
„Drive“ steht mit seinem wortkargen Fahrer und einem großen Werbeschild vor den Türen des Noir und nicht zuletzt vor den Pforten einer schwer zugänglichen Welt. Der rosa Schriftzug des Titels wird zu Recht gefeiert, ob er die Popularität des Neo-Noir tatsächlich fördern kann, liegt mehr in den Händen der anschließenden Berichterstattung. Hier genannte Filme wie „Memories Of Murder“ sollte davon profitieren. In diesem Atemzug, der noch eine kleine Weile halten wird, sollten wir auf ähnliche Werke der Vergangenheit hinweisen. Eine Kunstform besteht in seiner Entstehung aus zwei Elementen. Dem Schöpfer und dem Betrachter, der diese Kunst würdigt. Beide benötigen nicht mehr, doch die Masse ist die dritte Komponente, unser Verkauf.
Michael Denks