Laird Cregar, Linda Darnell, George Sanders, Glenn Langan, Faye Marlowe
© Twentieth Century Fox Film Corporation
London, England, an einem Abend im August des Jahres 1903: Zum Schein der Gaslaternen, die eben entzündet werden, sind im westlich gelegenen Stadtteil Fulham die Straßen und Gassen stets belebt. Aber im ersten Stock eines Gebäudes, das in seiner Ladenzeile ein Antiquitätengeschäft beinhaltet, ist dessen Inhaber Mr. Ogilby (Francis Ford) in Rage und wirft Gegenstände, die er von einer Werkbank greift, gegen einen hoch gewachsenen Angreifer, den renommierten Komponisten George Harvey Bone (Laird Cregar). Letzterer zückt ein Messer, ersticht den alten Mann und reißt die Deckenlampe herab, die er zu Boden schleudert, so dass der Raum in Flammen steht. Bald sieht die Menge auf der Straße das Feuer, man schlägt Alarm, und ein Spritzenwagen der Feuerwehr rückt an… Indessen taumelt Bone auf der Fulham Road voran und stößt in einige Passanten, die sich erst beschweren und dann sorgen, ob mit ihm alles in Ordnung sei. Von Bones Schläfe fließt ein Rinnsal Blut herab, doch der Hüne tritt den Rückweg nach Chelsea an, wo er am Hangover Square No. 12 eine im Basement gelegene Wohnung sein eigen nennt. Noch bevor er eintritt, hört er jemanden Klavier spielen, und als er durch die Tür kommt, sieht er Sir Henry Chapman (Alan Napier), Leiter und Dirigent eines Orchesters, mit einem Blatt der Partitur von George Harvey Bones letztem Konzert in der Hand, indessen seine Tochter Barbara (Faye Marlowe) am Piano sitzt. Die beiden sind erstaunt, dass er verletzt ist und letzte Nacht nicht nach Hause kam…
“I can make a few steps go an awful long way.” Einen langen Weg auf die Filmfestivals und die Bildschirme des Heimkinos hat der Film selbst zurückgelegt, der über Jahrzehnte so gut wie vergessen war. Scotland Yards seltsamster Fall wurde Laird Cregars letzter Auftritt im Kino, sein zweiter unter der Regie des Exilanten John Brahm, der als deutscher Jude Hans Brahm 1934 aus seiner Heimat zu fliehen gezwungen war und ab 1937 in Hollywood arbeitete. Brahm erreichte nie die Popularität seiner Kollegen Fritz Lang, Robert Siodmak oder Billy Wilder und lieferte sowohl für die Columbia Pictures als auch für die 20th Century Fox Film Corporation einige exzellente Thriller mit dunklen Untertönen ab. Der vorliegende ist eine Adaption von Patrick Hamiltons Romans Hangover Square (EA 1941) und schließt an einen von Brahm im Vorjahr gedrehten, auch in London spielenden Film Noir an. Aber Scotland Yard greift ein (USA 1944) spielt 1888, zur Zeit der Königin Viktoria I und Scotland Yards seltsamster Fall in der edwardianischen Epoche. Nicht nur liegen die Geschichten 15 Jahre auseinander, sie sind auch sonst durch nichts verbunden - außer durch die Produktion. Laird Cregar und George Sanders treten in beiden Werken in ähnlichen Rollen auf, die Drehbücher stammen von Barré Lyndon. Auch durften die Nebendarsteller Harry Allen, Jimmy Aubrey, Frederick Worlock, Wilson Benge und Ted Billings erneut ihr britisches Englisch zum Besten geben, und natürlich führte John Brahms Regie. Zugleich bediente der Film eine für die Zeit typische Faszination Hollywoods mit der britischen Metropole: George Cukors Das Haus der Lady Alquist (USA 1944), Robert Siodmaks Unter Verdacht (USA 1944) und Fritz Langs Ministerium der Angst (USA 1944) spielten alle in London und waren in Hollywood gedreht worden.
Wir Zuschauer wissen, dass George Harvey Bone während seiner durch Geräusche ausgelösten Phasen der Besessenheit zum Mörder wird. Er selbst weiß es nicht. Das Ganze ist eine Variante von Robert Louis Stevensons Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde (EA 1886), und es ist Scotland Yards psychologisch geschulter Kriminologe Dr. Middleton (George Sanders), der den Fall aufklärt. So großartig das Finale ist, darin Bones Concerto unter Leitung Sir Henry Chapmans aufgeführt wird, so unglaubwürdig und schlampig ist die kriminalistische Arbeit. Mit Scotland Yard hat der Film letzten Endes wenig zu tun. Daher ist sein deutschsprachiger Titel (er lief 1948 im österreichischen Kino) irreführend. Traurig und tragisch war das spätere Schicksal der Hauptdarsteller dieses allemal spannenden und atmosphärisch dichten Werks. Laird Cregar erlebte nicht einmal die Premiere im Februar 1945, da er im Dezember 1944 als Folge einer Gewaltdiät durch Herzversagen starb – im Alter von 31 Jahren. Hollywoodschönheit Linda Darnell litt lebenslang an Alkoholsucht; ihr Stern war ab den frühen 50ern im Sinken. Schon 1965 kam sie durch einen Hausbrand ums Leben, 41 Jahre alt. George Sanders, Tom Conways jüngerer Bruder und vierfach verheiratet, war einer der großen Charakterdarsteller Hollywoods. 1972 beging er im Alter von 65 Jahren mit einer Überdosis Barbiturate Selbstmord: "Dear World, I am leaving because I am bored. I feel I have lived long enough.“
Alle europäischen Editionen auf Blu-ray-disc oder auf DVD nutzen den englischen Originaltitel Hangover Square, lediglich die spanische DVD (2009) der 20th Century Fox Home Entertainment heißt Concierto Macabro, bietet aber auch den englischen Originalton und den Film selbst ungekürzt und im Originalformat. Die beste Neu-Edition (2017) ist die Blu-ray-disc von Kino Lorber (USA) in deren Reihe KL Studio Classics, die das Werk topp restauriert beinhaltet, dazu folgende Extras: Audiokommentare von Schauspielerin Faye Marlowe und Filmhistoriker Steve Haberman, einen weiteren Kommentar von Richard Schickel, dazu unterm Titel The Tragic Mask eine 20-minütige Dokumentation über Laird Cregar, mehrere Originaltrailer zu anderen Filmen mit Cregar und das 30-minütige Frigidaire Presents Hollywood Startime, eine Hörspielfassung des US-Rundfunks aus dem Jahr 1946 mit Linda Darnell und mit Vincent Price als George Harvey Bone.