Bonita Granville, Don Castle, Regis Toomey, John Litel, Wally Cassell
Los Angeles, Kalifornien: Vor einem halben Jahr ist er fortgegangen, aber heute Abend geht Michael Carr (Don Castle) in der Dunkelheit jene Straße hinunter, die lange sein Zuhause war: “The old street. Wet. Dirty. Miserable. Never know I'd been away at all." An der Kreuzung bleibt er stehen, nimmt die Pfeife aus dem Mund und blickt zum Apartment empor, das er einige Zeit mit seinem Lieutenant aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, mit Johnny Dixon (Wally Cassell) bewohnte. Wer jetzt wohl darin leben mag, fragt er sich… Mike Carr begibt sich zur Eckkneipe von Tim McGinnis (Thomas E. Jackson) mit seiner Beschilderung als Cafe und der Leuchtreklame für Eastside on Draught über Türflügeln mit einem “M“ inmitten der Gravur ihrer Milchglasscheiben. Sie selbst hatten ihr Stammlokal meist als Mac’s bezeichnet, und nun setzt sich Carr auf einen der Barhocker direkt am Tresen, so wie früher. Tim sitzt vor der Registrierkasse und macht sich handschriftlich Notizen. Er hat Mikes Eintritt nicht bemerkt, und der wirft eine Erdnuss nach ihm, worauf der Wirt ihn erfreut begrüßt. Ob er sich hier wieder ansiedeln werde oder einmalig vorbeikomme, will er wissen. Er werde Estelle Mitchell (Bonita Granville) treffen, antwortet Mike. Das habe er ihr vor einem halben Jahr, nach den Geschehnissen um die Ermordung ihrer Zwillingsschwester Linda (Bonita Granville) mitgeteilt, und er hoffe, dass sie kommen wird. Tim ist zuversichtlich und folglich bestellt Michael Carr, wie auch sonst, schon mal zwei Bier und dazu einen Whisky…
John Reinhardts Film Noir, der von der ersten bis zur letzten Einstellung alle Anforderungen an einen solchen bis in seine Details erfüllt, basiert auf der Kurzgeschichte He Looked Like Murder (EA 1941) von Cornell Woolrich, dem womöglich kompromisslosesten und abgründigsten US-Kriminalschriftsteller seiner Zeit. Zugleich erinnert die Prämisse teils an Robert Siodmaks im Vorjahr via Universal Pictures produzierten Film Noir Der schwarze Spiegel (USA 1946), darin Olivia de Havilland die Zwillingsschwestern Terry und Ruth Collins verkörperte, die eine von edler, sanftmütiger Natur und die zweite berechnend und mörderisch kalt. Die gleiche Doppelung findet sich übrigens in Roberto Gavaldóns Palast der Sünde / Die Andere (MEX 1946) mit Dolores del Rio als Magdalena Montes de Oca und als María Méndez, zwei Zwillingsschwestern, und einmal mehr ist die eine arm und aufrichtig, die zweite reich und bösartig. Im Jahr nach diesen Film Noirs präsentiert sich in John Reinhardts B-Produktion für Monogram Pictures also Bonita Granville als Femme fatale Estelle Mitchell und als deren liebenswürdiges Ebenbild Linda. Nun erfährt der Zuschauer gleich zu Beginn, dass ausgerechnet Linda Opfer eines heimtückischen Mordes wurde. Soviel ist oder scheint zumindest sicher. In einer Rückblende, welche die komplexe Geschichte der Schwestern und der mit ihnen liierten Weltkriegsveteranen Johnny Dixon und Mike Carr als Bericht für Kneipenwirt Tim McGinnis zusammenfasst, erfährt man die Hintergründe aus der Perspektive Michael Carrs. Allemal sind die Nachkriegswirren, welche Dixon traumatisiert stranden ließen und Carr zumindest mit dem Vorsatz erfüllten, durch ein Studium der Geografie seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern, auch für die Zuschauer mitunter verwirrend. An anderer Stelle weiß der Film zu punkten und uns trotz eines sichtbar geringen Budgets bei der Stange zu halten.
“The movie's strongest point is its outstanding noir look; it (…) has terrific visuals, with lots of shadows and rainy streets”, schreibt Laura Grieve für Laura’s Miscalleneous Musings, und damit liegt sie richtig. Hernry Sharp (Der gläserne Schlüssel, USA 1935) war als Kameramann seit 1920 in Hollywood tätig und agiert hier in einer Linie mit John Alton, Elwood Bredell oder Nicholas Musuraca. Auch die Riege der Schauspieler überzeugt, allen voran Regis Toomey, der viel zu selten Gelegenheit erhielt, sich mit einer Charakterrolle hervorzutun und der seinen Police Detective Heller exquisit mit Leben füllt und mit ihm eine eigenwillige Figur entstehen lässt. Der aus Österreich-Ungarn stammende Regisseur John Reinhardt und Drehbuchautor Robert Presnell sr. arbeiteten im Anschluss erneut mit Don Castle und mit Regis Toomey zusammen und zwar bei ihrem Film Noir High Tide (USA 1947), der ebenfalls wie von Cornell Woolrich geschrieben wirkt, es aber nicht ist. Von Cornell Woolrich stammte allerdings die Vorlage für William Nighs Todeszelle Nr. 5 (USA 1948), ein weiterer Film Noir der Monogram Pictures mit Castle und Toomey. Mit Bonita Granville trat Don Castle, der seine Schauspiellaufbahn 1957 beendete und 1966 im Alter von 48 Jahren an einer Medikamentenüberdosis starb, in Lesley Selanders Strike It Rich (USA 1948) einmal mehr gemeinsam vor die Kamera.
Eine von der Film Noir Foundation, San Francisco, in Kooperation mit dem UCLA Television & Film Archive und mit dem British Film Institute (BFI) exzellent restaurierte Fassung des Films, die 2015 anlässlich des UCLA Festivals of Preservation auch auf der Kinoleinwand zu sehen war, erschien via Flicker Alley (USA) auf einer exquisiten Blu-ray disc (2022) und zwar im Doppel mit John Reinhardts ebenfalls bemerkenswerter Low-Budget-Produktion High Tide (USA 1947). Das Ganze ist bild- und tontechnisch einwandfrei und zeigt sich jeweils ungekürzt im Originalformat mit der original englischen Tonspur. Als Extras gibt es Audiokommentare der Filmhistoriker Alan K. Rode und Jake Hinkson, dazu Kurzdokumentationen über Cornell Woolrich und über John Reinhardt, obendrein ein von Brian Light editiertes Booklet mit Szenenfotos und einem Essay Eddie Mullers, Gründer und Präsident der Film Noir Foundation, San Francisco.