Sidney Fox, O. P. Heggie, Henry Hull, Margaret Wycherly, Lynne Overman
Die wegen Mordes an ihrem Ehemann Ankeklagte Ethel Saxon (Helen Flint) eröffnet in einem bewegenden Plädoyer dem Gericht, der Jury und den Zuschauern, unter ihnen Journalist Bob Nolan (Henry Hull), wie sehr sie ihren Gatten liebte und dass sie nichts so sehr fürchtete, als dass er fortginge. Sie gibt Einblick in ihre toxische Beziehung zu einem ruchlosen Mann, der sie verachtete und zu verlassen beabsichtigte und den sie im Affekt tötete. Aber der Vorsitzende der Jury, Edward Weldon (O. P. Heggie), stellt ihr im Anschluss eine Frage, die den Unterschied zwischen Mord und Totschlag in den Augen der Jury womöglich messbar machen wird. Er möchte hören, ob sie nach der Tat das Geld, dass ihr Mann zuvor von der Bank abgehoben hatte und welches auf dem Tisch lag, genommen habe oder nicht. Ethel Saxon scheint zuerst verwirrt, sucht den Beistand ihres Verteidigers Ingersoll (Henry O’Neill), der ihr nicht mehr helfen kann, dann bejaht sie die Frage wahrheitsgemäß. Die Jury zieht sich zur Urteilsfindung zurück. Währendessen spricht Nolan mit dem Staatsanwalt Plunkett (Moffat Johnston), der aus dem Fall für die eigene Karriere sicher Profit wird schlagen können. Zeitgleich wird Stella Weldon (Sidney Fox), die Tochter des Jury-Vorsitzenden, von dem wortgewandten und fein gekleideten Gar Boni (Humphrey Bogart) angesprochen. Sie insistiert darauf, dass es sich um ein Verbrechen aus Leidenschaft handele, woraufhin Gar ihr zu verstehen gibt, dass die Jury nach seiner Meinung gar nicht wisse, was Leidenschaft überhaupt sei…
“I'm not ready yet to settle down in the suburbs and wear golf pants.” Bereits in solcher frühen Rolle, die Humphrey Bogart den achten Platz auf der Besetzungsliste und im Jahr 1934 sowohl sein Gesicht als auch seinen Namen auf Filmplakaten der Erstveröffentlichung unterm Titel Midnight unterbrachte, gehören dem späteren Weltstar die besten Dialogzeilen. Fünfzehn Jahre später, im Jahr 1949 und mit Bogart als inzwischen einem der international populärsten Darsteller Hollywoods, wurde Chester Erskines Verfilmung des Theaterstück Midnight (EA 1930) aus der Feder von Claire und Paul Sifton unter dem Titel Call It Murder von Guaranteed Pictures Co. Inc. erneut ins Kino gebracht. Filmplakate zeigten einen gealterten Bogart, der jetzt an erster Stelle der Besetzungsliste stand. Aushangfotos waren so manipuliert worden, dass Humphrey Bogart in Action-Szenen zu sehen war, die im Film gar nicht vorkommen. Womöglich hat das allgemeine Ressentiment gegenüber der etwas betulichen und steifen Adaption des Broadway-Flops damit zu tun, dass durch die Zweitverwertung (vermeintlich mit Bogart in der Hauptrolle) falsche Erwartungen geweckt wurden. Das Drama fokussiert sich demgegenüber auf die Familie Weldon, die am Abend der Exekution Ethel Saxons, die von der durch Edward Weldon geleiteten Jury schuldig gesprochen und daraufhin zum Tod verurteilt wurde, gemeinsam mit Bob Nolan in ihrem Wohnzimmer zusammenkommt und mit der US-amerikanischen Rechtsprechung und der Todesstrafe hadert. Im Kern befassen sich Theaterstück und Film folglich mit einer relevanten Fragestellung und die Zuspitzung der Ereignisse, die zuletzt die Familie Weldon selbst betreffen, ist auch keineswegs ungeschickt konstruiert. Leider erweisen sich einige Schauspieler und auch die Drehorte als teils zu fade, um die Ambivalenzen der Debatte wirklich auf den Punkt zu bringen.
“Multiple issues discussed in the film remain all-too-relevant today, including the role of the media in (…) swaying the public, along with the politicization of prosecution decisions”, schlussfolgert auch Laura Grieve für Laura’s Miscellaneous Musings, und ich kann nur zustimmen. Was ist aber die Rolle des Gauners Gar Boni? Ebenso wie der sensationslüsterne Journalist Bob Nolan findet er durch die Hintertür Zugang zur Familie Weldon, indem er nämlich das Herz der Tochter Stella erobert, die sich ernsthaft in ihn verliebt. Boni dagegen ist an ihr nicht viel gelegen, er sucht lediglich Zerstreuung. Und dass Stella sich am Ende tatsächlich die Frage gefallen lassen muss, ob sie von dem Gauner etwa ein Kind erwarte, ist für einen US-amerikanischen Film der Zeit allemal bemerkenswert. Dass allerdings das Theaterstück floppte, zeigt schon, wie wenig das Publikum auf die Abgründe solcher Thematik vorbereitet war. Humphrey Bogart feierte zwei Jahre später erneut mit einer Gangsterrolle in Archie Mayos Der versteinerte Wald (USA 1936) seinen Durchbruch und trat im gleichen Jahr in William Keighleys banalem Pre Noir Revolver und Roulette (USA 1936) erstmals gemeinsam mit Edward G. Robinson auf, jeweils auch erneut mit Henry O’Neill. Der Rest, ist man versucht hinzuzufügen, ist Geschichte. Sidney Fox, eigentlich Star von Midnight / Call It Murder, trat in lediglich zwei weiteren Filmen in Erscheinung und beging 1942 im Alter von 34 Jahren Selbstmord. O. P. Heggie starb 1936 mit 58 Jahren und Lynne Overman, im Film Stellas Schwager Joe Biggers, folgte ihm 1943 im Alter von 55 Jahren nach.
Für eine lange Zeit nur in minderwertigen Fassungen zu sehen, wurde Midnight / Call It Murder inzwischen hochwertig restauriert und liegt in einer bild- und tontechnisch exzellenten Version vor. Solche ist Teil der US-amerikanischen 2-BD-Box In The Shadow Of Hollywood - Highlights From Poverty Row (2021) von Flicker Alley; dazu gibt es einen Audiokommentar der Autorin und Filmwissenschaftlerin Leah Aldridge und ein Booklet mit einem Filmessay von Jan-Christopher Horak. Eine rundum vorbildlich editierte Edition.