Bewertung
****
Originaltitel
A Londoni férfi
Kategorie
Neo Noir
Land
HUN/FRA/GER
Erscheinungsjahr
2007
Darsteller
Miroslav Krobot, János Derzsi, Erika Bók, Tilda Swinton, Ági Szirtes
Regie
Béla Tarr, Ágnes Hranitzky
Farbe
s/w
Laufzeit
133 min
Bildformat
Widescreen
Eine Hafenstadt in Frankreich, an der Küste des Ärmelkanals: Der Rangiermeister Maloin (Miroslav Krobot) sitzt in einem verglasten Turm am Fährhafen, dem Stellwerk für die Eisenbahn. Die Fähre aus England liegt direkt vor ihm am Pier vertäut. Im grellen Neonlicht der Laternen gehen an diesem kalten Abend einzelne Passagiere von Bord, zeigen ihre Pässe und besteigen den Zug, der hier vor ihnen hält und bald abfahren wird. Zwei Männer sprechen indessen an Deck der Fähre miteinander. Einer, später wird er als ein gewisser Brown (János Derzsi) aus London entlarvt, verlässt das Schiff und geht zu Fuß auf die andere Seite der Mole. Der zweite erscheint mit einem Koffer und wirft ihn, von den Zollbeamten unbemerkt, dem ersten zu, der ihn aufnimmt und verschwindet. Nun verlässt der zweite das Schiff und folgt, anstatt die Bahn zu besteigen, dem ersten nach. Maloin beobachtet es und kurz darauf, der Zug ist eben abgefahren, einen Kampf der beiden am Ende der Mole, bei dem der Kofferwerfer unterliegt und ins Hafenbecken fällt. Der erste sucht ihn zuerst, wendet sich aber schließlich um und betritt ein nahegelegenes Gasthaus. Maloin verlässt mit einem Bootshaken seinen Turm und fischt zwar nicht den Mann, sehr wohl aber den fraglichen Koffer aus dem Wasser. Ohne gesehen zu werden, kehrt er ins Stellwerk zurück und öffnet in solcher Abgeschiedenheit das Gepäckstück…
Der Mann aus London ist ein Roman des belgischen Autors Georges Simenon aus dem Jahr 1934. Eine erste und heute fast unbekannte Verfilmung stammt von Henri Decoin (Razzia in Paris, FRA 1955) und erschien 1943 im damals von den Deutschen besetzten Frankreich. 2007 bringt der ungarische Avantgardist Béla Tarr in Kooperation mit Ágnes Hranitzky seine eigene Filmfassung der Vorlage, eine 133 Minuten lange Hommage an den Film Noir im Besonderen und das Licht und die Schatten in der Schwarzweißfotografie im Allgemeinen. Das Resultat bezeichnete das Magazin Time Out als „film noir as metaphysical poetry…“ Fern von Konventionen des Thrillerkinos US-amerikanischen Zuschnitts geht es Béla Tarr um grundlegende, in der Tragödie und damit auch in mancher Spielart des Film Noirs angelegte, innere Nöte seiner Protagonisten. Maloin, ein wortkarger und rechtschaffener und fürsorglicher Mann in einem schlichten Leben mit Familie, bestehend aus Tochter Henriette (Erika Bók) und Ehefrau Camélia (Tilda Swinton), wird in Versuchung geführt. Diese grundlegende Prämisse des Buches von Georges Simenon stellt Tarr in den Mittelpunkt seines geruhsam epischen Bilderreigens stilisierter Schwarzweißfotografie. Die Versuchung und der erwachsende Zwist, der eine folgenschwer “falsche“ Schritt aus dem Gleichmaß des Alltags ist ein zentrales Thema auch des Film Noirs.
Geruhsam ist hier von Bedeutung, denn es bedingt die faktische Langsamkeit des Erzähltempos, und sie wurzelt in der Tiefe solchen Konflikts. Maloin wird vom Fluch und Segen des Fundes in seinen Grundfesten erschüttert. Doch die Auseinandersetzung in ihm bleibt nahezu stumm - davon aber erzählt der Film. Der Rangiermeister einer namenlosen Hafenstadt - gedreht wurde u.a. in Bastia auf Korsika, Frankreich - ist ein scheuer und wenig mitteilsamer Mensch. Außerhalb seiner Arbeit und seiner Familie spielt er Schach. Und so erinnert Tarrs Film an Werke von Peter Greenaway (auch die Musik Mihály Vigs lässt an die Achtziger denken), an Andrei Tarkowski und nicht zuletzt an Stummfilme in den Zwanzigern. Die Kamera umkreist Maloin, sie geht mit, zeigt seinen Hinterkopf, darin die Gedanken hämmern. Lange Einstellungen, das Bewusstmachen von Realzeit als Handlungszeit, all das ist ein künstlerisch orientiertes Programm. Béla Tarrs Der Mann aus London ist keine den Konventionen des Unterhaltungskinos geschuldete Verfilmung eines Krimis. Wer davon ausgeht, und viele Publikumskritiken deuten auf ein solches Missverständnis hin, wird aufgrund fehlgeleiteter Erwartungen ggf. enttäuscht oder verärgert reagieren. Tarrs Filme fordern Aufmerksamkeit und Geduld vom Zuschauer, ein Austreten aus jedweder Konsumentenhaltung des Alltags. Doch bei aller Schwarzweißstilistik bleibt der Eindruck, dass Tarr seinen Bildern, ähnlich wie der späte Tarkoswki, mitunter zu sehr nachhängt. Die stete Verfremdung, das Gleißen und Verschwinden von Lichtquellen, die Vielfalt der Grauwerte – all das erblüht mitunter übers Maß der Erzählung hinaus zum Selbstzweck, und es ist somit leider auch ein Minuspunkt.
Gute DVD von Artificial Eye, England, die den Film in voller Länge (133 Minuten) und im Originalformat zeigt, original französisch-englischer Ton mit Untertiteln. Die Angabe von nur 90 Minuten Spielzeit auf dem Cover ist falsch, als Extra gibt es ein 30minütiges Interview mit Béla Tarr.