Carlos López Moctezuma, Armando Moreno, Beatriz Aguirre, Carolina Jiménez, Miguel Fleta
Barcelona, Hauptstadt der spanischen Provinz Katalonien: In der in einem Industriegebiet gelegenen Calle del Monte ertönt der Schrei eines Mannes. Kurz darauf erscheint in Trenchcoat und Hut der Autoverkäufer Enrique (Carlos López Moctezuma) und geht in einem stillgelegten Transporttunnel zügig den Schienenstrang entlang. Durch eine Stahltür, die er von außen wieder abschließt, tritt er ins Tageslicht frühen Morgens. Indessen er sich nach etwaigen Verfolgern umsieht, durchquert er eine Industriebrache in Richtung Innenstadt. Zwischendurch tritt er in eine schlammige Pfütze und bespritzt sich die Anzughose, passiert den Frachthafen und läuft weiter, bis er in der Pension Layetana ankommt, darin er ein Zimmer bewohnt. Er blickt aus dem Fenster und vergewissert sich erneut, dass er nicht beschattet wird, bevor er sich entschließt seinen Anzug zu wechseln. Kurz darauf sieht man ihn mit dem in Papier eingeschlagenen, schmutzigen Anzug eine Reinigung ansteuern. Dessen Eigentümer (José Sazatornil) lässt ihn trotz der frühen Stunde eintreten und legt sich nach allerlei Gerede darauf fest, den Anzug bis zum Abend zu reinigen, so dass er ihn abholen könne. Währenddessen blickt Enriques Verlobte Clara (Beatriz Aguirre) mit ihrem Koffer in der Hand am Bahnhof dem Zug hinterher, den sie gemeinsam hatten besteigen wollen. Als Enrique ankommt, erfährt sie, dass Francisco Ortia seinen Scheck über 50.000 Peseten noch nicht erhalten hatte und stattdessen bei der Auseinandersetzung mit Enrique von jenem getötet wurde…
Unter dem Pseudonym William Irish veröffentlichte der legendäre US-Kriminalschriftsteller Cornell Woolrich einst seine Kurzgeschichte Through A Dead Man’s Eye (EA 1939) im Magazin Black Mask. Während der 40er Jahre wurde der wohl dunkelste und pessimistischste Autor seiner Zeit zum Lieferanten zahlreicher Vorlagen für den klassischen Film Noir in und aus Hollywood. Jack Hivelys Street Of Chance (USA 1942), Robert Siodmaks Zeuge gesucht (USA 1944) oder Arthur D. Ripleys The Chase (USA 1946) sind einige der Produktionen, die nach Büchern aus seiner Feder entstanden. Schon Ted Tetzlaffs Das unheimliche Fenster (USA 1949) und Carlos Hugo Christensens Si muero antes de despertar (ARG 1952), die Adaption seiner Erzählung If I Should Die Before I Wake (EA 1946, als William Irish), machten deutlich, dass Cornell Woolrich gern Kinder und Jugendliche zu Protagonisten seiner Kreationen auserkor. Auch die im Anschluss an Christensens lateinamerikanischen Klassiker erneut spanischsprachige Adaption der eingangs erwähnten Geschichte Through A Dead Man’s Eye rückt mit dem etwa 12-jährigen Pedro (Manuel Fernández Pin) und seinen Schulfreunden Antonio (Javier Dotú) und Miguelín (Paquito Alonso) erneut eine Gruppe von Kindern ins Zentrum der Handlung. Pedro ist der Sohn eines Inspektors der Polizei (Armando Moreno) in Barcelona, welcher nach einer Serie von Misserfolgen unter dem Druck steht, einen Mordfall unbedingt aufklären zu müssen. Als sein Sohn ihm dabei zur Seite stehen will, bringt er sich selbst in Gefahr. Wie bei den zuvor genannten Werken nach einer literarischen Vorlage Woolrichs, scheuen Täter nicht davor zurück erneut zu morden und auch ein Kind, das ihnen gerfährlich werde könnte, zum Schweigen zu bringen. Im Gegensatz zu den Ermittlern und zu allen sonstigen Rollencharakteren kennen die Zuschauer von El ojo de cristal den Mörder von Anbeginn. Dennoch hält Regisseur Antonio Santillán den Spannungsbogen konsequent aufrecht und macht sich diesen Umstand sogar zunutze.
Die Drehorte in der katalanischen Metropole sind fantastisch, die Kameraarbeit Ricardo Albiñanas erweist sich in vielen Szenen als herausragend, und die Schauspielerinnen und Schauspieler liefern solide bis sehr gute Leistungen ab, allen voran die Clique der Schüler rund um Pedro, die mich wiederholt zu beeindrucken wusste. Armando Moreno bleibt als Inspektor etwas blass; seine Figur und seine Darstellung sind eine Schwachstelle. Kaum überzeugen konnte mich auch Antonio Santilláns Dramaturgie im Finale, sobald der Mörder dort in einen Zweikampf gerät. Nichtsdestotrotz ist El ojo de cristal als spanisch-mexikanischer Film Noir seiner Epoche eine Besonderheit, nicht nur wegen der US-amerikanischen Literaturvorlage, sondern weil er mit seinem Stadtporträt Barcelonas eine ebenso eindringliche Bildsprache zu präsentieren weiß wie etwa Carol Reeds in Wien gedrehter Der dritte Mann (UK 1949) oder Norman Fosters in San Francisco angesiedelter Einer weiß zuviel (USA 1950). Wer die Gelegenheit erhält, diesen bis dato seltenen und kaum bekannten Filmklassiker des europäischen Kinos zu sehen, sollte deshalb nicht zögern. Er ist sehenswert.
Im August 2022 gehörte der Film zu dem als Spanish Noir betitelten Programmteil des Noir Film Festivals im tschechischen Český Šternberk und wurde dort in einer exquisit restaurierten Fassung mit englischen Untertiteln aufgeführt. Einzig in den USA gibt es via DistriMax. Inc. eine seit langem vergriffene DVD-Ausgabe (2006, RC1), die den Film ungekürzt im Originalformat mit englischen Untertiteln präsentiert. Da uns solche Edition nicht vorliegt, kann ich über die Bild- und Tonqualität der DVD keine Aussage machen.