Tim Roth, James Russo, Deborah Kara Unger, Joseph Ragno, Catherine Kellner
New York: Nach sechs Jahren in Haft wird Joey Larabito (Tim Roth) aus dem Gefängnis entlassen und erinnert sich bei seinem letzten Gang durch den Korridor zwischen den Zellen an Demütigungen und Misshandlungen, die er über sich hat ergehen lassen müssen. Ein Kassierer zahlt ihm die 42 US-Dollar aus, mit der er in die Freiheit entlassen wird. Sodann macht sich Joey auf den Weg nach Staten Island, wo er geboren worden war und wo er sein Leben verbracht hatte, bevor er wegen Raubmords inhaftiert und verurteilt wurde. Das Stadtviertel ist von der Armut und von der Hoffnungslosigkeit seiner Bewohner gekennzeichnet, und auch Joey Larabitos Elternhaus wirkt schäbig und verwahrlost. Sein alter Hausstürschlüssel passt nicht mehr ins Schloss, und als er klopft, öffnet ihm Lorraine (Deborah Kara Unger), die er noch niemals sah. Sie möchte wissen, was er wolle und wer er sei. Joey gibt sich als Tommy Larabitos (James Russo) Bruder zu erkennen, aber Lorraine bleibt misstrauisch. Sie lässt ihn auf der Veranda warten und die Tür ins Schloss fallen und begibt sich ins Innere des Hauses. Kurz darauf erscheint Tommy, der keine Ahnung davon hatte, dass sein Bruder heute Morgen auf freien Fuß käme. Es stellt sich heraus, dass der hiesige Telefonanschluss abgemeldet wurde, Tommy seine neue Nummer aber nicht an Joey weitergab. Auch als Tommy ihm eröffnet, mit Lorraine verheiratet zu sein, ist das für Joey eine Neuigkeit. Gemeinsam betreten sie schließlich das Haus, in dem sie als Brüder heranwuchsen…
“You shouldn't have taken him there in the first place, it's sleazy and dangerous.” – “So are you.” Als Freund des Neo Noirs der 90er Jahre zählt dieser Independentfilm des heute in Berlin und in Los Angeles ansässigen Schriftstellers und Regisseurs Buddy Giovinazzo für mich zu den positiven Überraschungen, die mir beim Stöbern nach zu Unrecht vergessenen Produktionen der Kinogeschichte zuletzt unterkamen. Seine Premiere feierte das Werk im September 1996 auf dem Deauville Film Festival in Frankreich. Im Januar 1997 hatte es seinen Kinostart auch in der Bundesrepublik Deutschland, wo es jedoch sang- und klanglos unterging. In den USA lief der in Buddy Giovinazzos Heimat Staten Island, New York, angesiedelte Thriller im September 1997, ein Jahr nach seiner Premiere in Europa. Tatsächlich zeichnet er ein finsteres Bild des sozialen Klimas und der Lebensumstände in den USA, wo er sich explizit auf zu einem Dasein ohne Perspektiven verdammten unteren sozialen Schichten der Gesellscaft fokussiert. Ein Neo Noir um einen ex-Sträfling, der während der Jahre seiner Inhaftierung Demütigungen und Gewalt erfuhr, indessen er tatsächlich unschuldig ist, klingt nach dem typischen Auftakt in einen von Klischees befrachteten Neo Noir jener Zeit. Aber mit Unter Brüdern verhält verhält es sich anders. Der Film seines Autors und Regisseurs Giovinazzo verblüfft vor allem in seinen ersten 70 Minuten mit einer detailierten und präzisen Charaktersudie, der er sich verschrieben hat. Dieses meint alle drei der zentralen Figuren, die quasi als Familie im heruntergekommenen Haus der Mutter der Brüder Joey und Tommy Larabito leben und deren Chemie miteinander das Skript und der Film in vielen Zwischentönen fein herausarbeiten.
”Giovinazzo wrote (…) ‘Poetry and Purgatory’ or ‘On Broken Street’, which - partly inspired by Hubert Selby - are a very pure vision of neo-modern noir-fiction in the nineties. Even his film ‘No Way Home’ (1996) fits into this context”, schreibt Martin Stiglegger für Ikonen: Magazin für Kunst, Kultur und Lebensart in seiner Rezension des Buches Crime Files: The Noir Thriller (EA 2001) von Lee Dorsey, und ich kann seiner Einschgätzung des Stellenwerts dieses Films nur zustimmen. Unter Brüdern gehört auf jeden Fall in den Katalog des Neo Noirs der 90er Jahre, aus dem der sträflich ignorierte Film bis dato ausgeklammert wurde. Ich bin kein Freund von Tim Roth (Pulp Fiction, USA 1994), der ähnlich wie Gary Oldman eine Neigung zum Over-Acting hat, die er z.B. in Bill Dukes Hoodlum (USA 1997) unter Beweis stellt, aber hier gibt er eine wunderbar zurückgenommene und punktgenaue Vorstellung. Solches lässt sich auch von James Russo und Deborah Kara Unger sagen, zwei Akteure, die jenseits der 90er Jahre nicht mehr viel Aufmerksamkeit fanden und großteils in B-Produktionen auftraten. Der Neo Noir Unter Brüdern ist das Gegenteil eines Feel-Good-Movies; sein Finale ist ausgesprochen brutal und konsequent. Letzteres ist zugleich der Teil des Films, der den Anforderungen jenes Unterhaltungskinos für ein Publikum post Quentin Tarantino, Luc Besson und Oliver Stone am ehesten folgt und insofern etwas abfällt. Indessen der Film atmosphärisch an Tamra Davis‘ Guncrazy – Junge Killer (USA 1992) und an Boaz Yakins Fresh (USA/FRA 1994) anschließt, zwei bis heute unterschätzte Neo-Noir-Klassiker ihrer Zeit, erweist er sich im Ganzen als eigenwilliger und auch für ein heutiges Publikum sehenswerter Thriller, den zu entdecken sich allemal lohnt.
Es gibt eine schön editierte deutsche DVD-Edition (2008) der Kinowelt Home Entertainment GmbH mit dem Film ungekürzt im Originalformat, bild- und tontechnisch einwandfrei, dazu den original englischen Ton und die deutsche Kinosynchronisation, optional deutsche Untertitel und als Extras ein Interview mit Buddy Giovinazzo, eine Fotogalerie, den Kinotrailer und Kurzbiografien der Schauspieler in Hauptrollen. Empfehlenswert!