Bewertung
****
Originaltitel
Nueve reinas
Kategorie
Neo Noir
Land
ARG
Erscheinungsjahr
2000
Darsteller
Ricardo Darin, Gastón Pauls, Letitia Brédice, Tomás Fonzi, Ignazi Abadal
Regie
Fabián Bielinsky
Farbe
Farbe
Laufzeit
109 min
Bildformat
Widescreen
Buenos Aires, Argentinien: Noch eine letzte Zigarette gönnt sich Juan (Gastón Pauls), bevor er in der Dunkelheit vor dem Sonnenaufgang die Straße überquert, und den Shop einer Tankstelle betritt. Mit einem uralten Trick versucht er die von ihrer Nachschicht müde Verkäuferin (Graciela Tenembaum) übers Ohr zu hauen, indem er sie mit einem großen Geldschein zur falschen Ausgabe von Wechselgeld verführt, und es gelingt ihm sogar. Währenddessen wird er von dem ebenfalls anwesenden Marcos (Ricardo Darin) beobachtet. Als Juan den Trick direkt nach dem Schichtwechsel mit der zweiten Verkäuferin (María Mercecedes Villagra) versucht, fliegt er auf, und der Manager (Gabriel Correa) will die Polizei rufen. Da gibt sich Marcos selbst als Polizist zu erkennen, stürzt sich auf den dreisten Dieb und führt ihn mit einigem Aufwand aus dem Ladenlokal, nicht ohne die Geldscheine sicherzustellen, die Juan erbeutet hat und die die Polizei später an den Manager zurückgeben wird. Kaum sind sie um die nächste Ecke, lässt Marcos sein Opfer auch schon los, zieht zwei Pakete Zigaretten aus seinen Taschen, fragt Juan ob er rauche, und wirft, als dieser verneint, die ungeöffneten Pakete einfach auf die Straße. Marcos ist selbst ein Trickbetrüger, ein sehr guter sogar, und er bietet dem noch unerfahrenen Juan schließlich an, sein Partner zu werden, da sein bisheriger, den er den „Türken“ nennt, seit einer Woche verschwunden sei. Juan ist unsicher, denn er arbeitet lieber allein, aber für diesen heutigen Tag willigt er ein…
“Argentina is a country that lends itself to noir and neo-noir. In the underrated Nine Queens (…) Fabián Bielinsky portrayed Buenos Aires as a city of con-men (and women) constantly seeking an edge over their victims and even each other”, schreibt Wayne Bernhardson unterm Titel Argentina Noir für Southern Cone Travel. Ich habe nie begriffen, warum Nine Queens in der internationalen Rezeption als Komödie oder als ein leichtgewichtiger Kriminalfilm gehandelt wurde, demgegenüber Stephen Frears Grifters (USA 1990) eindeutig als Neo Noir gilt. Der Humor in Bielinskys Film ist unübersehbar, aber er ist so rabenschwarz wie derjenige in der US-amerikanischen Produktion des britischen Autors und Regisseurs Frears. In Nine Queens "fehlt" es an harter Gewalt, das ist richtig, aber dies hat auch einen klassischen Film Noir, der sich zentral mit Täuschung und Betrug befasst, nie ausgemacht, dafür sind Irving Pichels Quicksand (USA 1950) oder Fritz Langs Die Bestie (USA 1956) gute Beispiele. Mit Robert Bressons Pickpocket (FRA 1959) rückte die Figur des Betrügers, eines seine Mitmenschen ständig täuschenden Diebes, explizit in den Mittelpunkt. Eine bewusst falsche Identität, die dienen soll, die eigene Amoralität zu verschleiern, ist dem Film Noir ja nicht fremd. Dessen "Homme fatale" ist oft eine Person mit mehreren Namen und mit mehreren Rollen. Der Trickbetrüger geriet außer in Frears' Grifters vor allem durch Davis Mamets Haus der Spiele (USA 1987) und durch Bryan Singers Die üblichen Verdächtigen (USA/GER 1994) in den Fokus des Neo Noirs. Für mich bewegt sich Nine Queens genau in deren Fahrwasser, geht es auch nicht um Mord und Totschlag, was selbst einen Neo Noir nie per se auszeichnet.
© Studiocanal GmbH
Keine der handelnden Personen ist, wofür sie einander halten oder wofür sie der Zuschauer hält. Und keine von ihnen ist in letzter Konsequenz sympathisch, schon gar nicht der (scheinbar) als Entscheidungsträger agierende Marcos, der nicht nur Bruder und Schwester übers Ohr gehauen hat, sondern letztere aus Kalkül sogar zur Prostitution zu überreden sucht. Tatsächlich ist die Urbanität ein zentrales Element der Geschichte selbst, wenn Marcos seinem Helfershelfer Juan klarmacht, dass es in Buenos Aires verschiedenste Arten von Dieben und Betrügern gibt, die allesamt im Kielwasser der alltäglichen Geschäftigkeit ihr Auskommen suchen, zugleich klar voneinander zu unterscheidende Regeln und Wertvorstellungen ihr eigen nennen, die über ihren Rang entscheiden. Er sieht sich selbst in dieser Ordnung als einen mit außerordentlichen Qualitäten und hohem Arbeitsethos ausgestatteten Vertreter seiner Zunft, womit Bielinsky durchaus die Nähe zu Bressons erwähntem Pickpocket herstellt. Aber sowohl Marcos’ Schwester Valeria, der undurchsichtige Juan als auch die Zuschauer sehen Marcos mit anderen Augen. Zuletzt ist seine trickreiche Handlungsweise gar nicht entscheidend, denn das System, darin er lebt und von dem er profitiert, funktioniert nach genau den amoralischen Gesetzen, die ihn für sich und für uns in seinem Mikrokosmos überlegen erscheinen lassen. Hier zeigt sich Bielinskys fatalistisch düstere Sichtweise in ihrer Gänze, die zuvor vom Spiegelfechten der Akteure bemäntelt wurde. Als Gauner unter sich drehte Gregory Jacobs 2004 ein deutlich schwächeres Remake für Hollywood, so überflüssig wie fast jedes andere auch. Fabián Bielinsky brachte mit El aura (ARG 2005) einen der besten Neo Noirs seiner Zeit ins Kino, bevor er im Juni 2006 mit nur 47 Jahren tragischerweise einem Herzinfarkt erlag.
Sehr gute DVD-Edition der Studiocanal GmbH (2004) mit dem Film ungekürzt im Originalformat, wahlweise deutsche oder spanische Tonspur, dazu optional deutsche Untertitel, ein Making of, Behind the Scenes und den Kinotrailer als Extras.