Jean-Louis Trintignant, Robert Ryan, Lea Massari, Aldo Ray, Jean Gaven
Marseille, Südfrankreich: Mehrere Möbelpacker tragen einen Spiegelschrank in eine Buchhandlung, in deren Schaufenster ein Plakat der Cheshire Cat des Illustrators John Tenniel aus Lewis Carrolls Alice im Wunderland zu sehen ist. Die Mutter Cardot steht mit ihren zwei Kindern davor und flüstert ihrem Sohn Antoine ins Ohr, dass er sich auf den Weg machen und sich Freunde suchen solle. In einem Samtanzug steigt Antoine eine Treppe empor, an deren Absatz Kinder der Sinti und Roma stehen, die Tony daran hindern, eine Streichholzschachtel an sich zu nehmen. Mit einem Netz Murmeln rennt er höher und höher hinauf, bis er auf noch eine Gruppe Kinder trifft, deren Anführer mit einem Taschenmesser sein Murmelnetz aufschneidet, so dass der gläserne Schatz die lange Treppe hinunter klackert… Fünf Meilen jenseits der US-amerikanischen Grenze warten vier Männer (u.a. André Lawrence, Michel Maillot) der Sinti und Roma an einem einsamen Bahnhof auf kanadischem Territorium auf einen Fernzug, der just zum Halten kommt. Als Antoine Cardot (Jean-Louis Trintignant) aussteigt, bedroht ihn der Anführer mit einem Klappmesser und in Antoines Gedächtnis springen Erinnerungen an einen von ihm in Frankreich verursachten Flugzeugabsturz, der den Tod mehrerer Kinder verursachte und für den er von einem französischen Gericht freigesprochen wurde. Unbeeindruckt kündigt der Anführer Tony an, dass er nicht so wie in New York glimpflich davonkommen werde, wo er sich lediglich eine harmlose Stichwunde einhandelte…
Ein ungemein bizarrer Thriller, was einen in Anbetracht der Beteiligung des großartigen Sébastien Japrisots als Autor des Drehbuchs nicht wundern darf. Es erschien zwei Jahre nach der Verfilmung unter dem deutschen Titel Lauf, wenn du nicht schießen kannst (EA 1974) in der Buchreihe rororo thriller im Rowohlt Verlag als genau das, was es ist, nämlich als Drehbuch. Ursprünglich ist letzteres eine (sicher eigenwillige) Adaption des Romans Schwarzer Freitag (EA 1954, auf Deutsch 1994) vom US-amerikanischen Autor David Goodis, woraus Japrisot im Vorwort auch keinen Hehl macht, sehr wohl aber der Film von René Clément, der Goodis‘ Roman weder im Vor- noch im Nachspann erwähnt. Inklusive des Titels Treibjad bleiben die Umbenennungen von Drehbuch und Film in Deutschland eigentümlich sinnlos, denn wörtlich übertragen bedeutet La course du lièvre à travers les champs nichts anderes als Der Lauf des Hasen über die Felder, was sowohl mit Bezug auf die von Japrisot erdachte, wiederholte Bezugnahme auf Lewis Carrolls Alice im Wunderland (EA 1865) als auch im Rekurs auf eine im Finale des Films relevante Anekdote, die der Gangster Charley Ellis (Robert Ryan) seinem Kumpanen Antoine Cardot erzählt, von Bedeutung ist. Doch konträr zu Frankreich lässt sich in Deutschland mit solch einem Titel ein Kinopublikum nicht für einen Thriller gewinnen, obgleich der in einer für David Goodis typischen Art und Weise auf seine Figuren und deren Verhältnisse fokussiert ist, nicht so sehr auf Action und Gewalt. Ähnlich wie nach dem fulminanten und zugleich kurzen Auftakt in Paul Wendkos‘ Ein Toter lügt nicht (USA 1957), der auf David Goodis‘ Am Ende der Nacht (EA 1953, auf Deutsch 1990) basiert, kommt Treibjagd bald zu einem vermeintlichen Stillstand, darin sich eine eigentümliche Gemeinschaft von Außenseitern taxiert und belauert.
„Clément, ein Regisseur, der nie so recht in Mode gekommen ist, auch nicht in Frankreich, (…) findet eine bewundernswerte inszenatorische Balance zwischen Märchenspiel und Gangsterstück“, schlussfolgerte bereits 1972 der deutsche Filmkritiker und Filmregisseur Hanc C. Blumenberg in der deutschen Wochenzeitung Die Zeit und kam ebenfalls auf die literarischen Einflüsse und Verweise in Treibjagd zu sprechen, ohne das Werk einem breiteren Publikum nahebringen oder gar vor dem Vergessen bewahren zu können, dem es schon bald anheim fallen sollte. Aber womöglich ist der Film mit einer Spielzeit von 140 Minuten (NTSC) eben auch (zu) lang geraten, denn die lakonische, spielerische und coole Weltverachtung jener Protagonisten als Fortsetzung der Ränke ihrer Kinderjahre entspricht sicher nicht den Erwartungen vieler Thrillerfreunde, zumal der Nebenstrang mit den hartnäckigen Verfolgern Tony Cardots bezeiten forciert wirkt. Nichtsdestotrotz weiß Treibjagd auch Jahrzehnte nach seiner Premiere zu verblüffen, da er sich den Konventionen des Genres widersetzt. Die Nähe zum Film Noir findet die Erzählung in einer schlüssigen Dramaturgie, die ihre Figuren über die Schwelle des Todes treibt, weil sie selbst im Leben ihre Zukunft verspielten oder aber sich um letztere nur scheinbar noch bemühen. Robert Ryan und Jean-Louis Trintignant agieren herausragend und verleihen ihren cool-komplexen Rollencharakteren eine jeweils beeindruckend schafe Kontur. Allemal ist das kein Film für jedermann, auch heutzutage nicht.
Es gibt eine bild- und tontechnisch erstklassige englische DVD-Edition (2013) von Studiocanal Films mit dem Film ungekürzt (135 Minuten, PAL) im Originalformat und mit der original französischen Tonspur inklusive englischer Untertitel, ansonsten jedoch gewohnt spartanisch ohne jegliche Extras.