Bewertung
*****
Originaltitel
The Offence
Kategorie
Neo Noir
Land
UK/USA
Erscheinungsjahr
1972
Darsteller
Sean Connery, Trevor Howard, Vivien Merchant, Ian Bannen, Peter Bowles
Regie
Sidney Lumet
Farbe
Farbe
Laufzeit
107 min
Bildformat
Widescreen
© United Artists Corporation
In einem Polizeirevier hören Hill (Anthony Sagar) und Garrett (Richard Moore) plötzlich verdächtige Geräusche auf einem rückseitig gelegenen Raum. Als sie dort eindringen, bietet sich ihnen ein Bild des Schreckens. Detective Sergeant Johnson (Sean Connery) hat hier einen Mann namens Kenneth Baxter (Ian Bannen) brutal zusammengeschlagen… Bracknell in Berkshire, England, knapp 50 Kilometer westlich von London: Die Polizei überwacht eine Schule, aus der an diesem Nachmittag die Kinder heraus strömen. Drei Mädchen sind in der letzten Zeit vergewaltigt worden; nun stehen die Eltern am Eingang und nehmen ihre Sprösslinge in Empfang. Det. Sergeant Johnson hält nichts von dieser Art der Überwachung, wie er den im Auto wartenden Polizisten Cameron (Peter Bowles) und Jessard (Derek Newark) brüsk und knapp mitteilt, da sie den Täter nämlich nicht abschrecke und man ihm damit nicht näher komme. Aber die drei bemerken nicht, dass die Schülerin Janie Edmonds (Maxine Gordon) nicht wie sonst mit zwei anderen mitläuft, da diese von ihren Müttern abgeholt werden. Allein überquert sie eine Brache, als eine Frau (Hilda Fenemore) aus der Ferne noch mitbekommt, wie sie vor dem Eingang zu einer Unterführung von einem dunkel gekleideten Mann, der ihr folgte, angesprochen wird. Es dauert nicht lange, bis der Polizei eine Vermisstenmeldung vorliegt und Johnson mit seinen Kollegen zur Schule zurückeilt, um trotz Einbruch der Dunkelheit das Mädchen zu suchen…
“Sidney Lumet’s The Offence stars Sean Connery as a beleaguered policeman on the verge of breakdown”, formuliert Andrew Spicer knapp und triftig in seinem Historical Dictionary Of Film Noir (2010), ohne dem etwas hinzuzufügen. ”Johnson is a fusion of the Dirty Harry-style avenging angel and the shop-soiled white knight of Noir films and fiction,” schreibt Jonathan McCalmiont für Ruthless Culture im Bewusstsein, dass der Film nicht nur einer von Sidney Lumets besten sondern auch verstörend ist. Aber obwohl Sein Leben in meiner Gewalt in manchen Listen zum Neo Noir ab Mitte der Sechziger auftaucht, gibt es nur wenige, die sich mit dem Meisterstück Sidney Lumets eingehend befasst haben. Der Regisseur hat bis zu seinem letzten Werk, Tödliche Entscheidung (USA/UK 2007), mitunter zwei Filme pro Jahr gedreht. Er war rastlos produktiv und hat den Neo Noir um manches zentrale Werk bereichert. Seine Filmografie erstreckt sich über einen Zeitraum von 50 (!) Jahren und steht im Spannungsfeld zwischen Kompromiss – z.B. Mord im Orient-Express (UK 1974), ein Agatha-Christie-Krimi mit All-Star-Besetzung - und Radikalität. Sein Leben in meiner Gewalt ist ein Beispiel für Letzteres, ein englischer Noir, der sofort zu Beginn via Rückblenden in zunehmende Dunkelheit abtaucht.
© United Artists Corporation
Verstörend ist der Film, weil er zeigt, was gemeinhin ausgeklammert wird, doch meint es nicht etwa physische Gewalt. Als Detective Sergeant Johnson im nachtschwarzen Wald das Opfer einer Vergewaltigung findet, ist der Zuschauer Zeuge, wie er das Kind minutenlang beruhigt, bis seine Kollegen eintreffen. Aber Johnsons Art des Umgangs mit dem Opfer ist beunruhigend. So erscheint er keinesfalls als Retter sondern eher selbst wie ein Täter. Als der Strahl der ersten Taschenlampe auf ihn fällt, wirkt sein Minenspiel, als sei er es, der als solcher nun erkannt werde. Sidney Lumets Thriller ist mit seiner Rückblendentechnik, den Low-Angle-Shots und der Tristesse inner- und außerhalb des Polzeireviers mehr ein Neo Noir als mancher so etikettierte, populärere Film der Siebziger. In den USA war Paul Schrader für Taxi Driver (1976) und Der Mann mit der Stahlkralle (1977) der Autor für traumatisierte Protagonisten, in beiden Fällen Vietnam-Veteranen. Sidney Lumets Det. Sergeant Johnson – von Sean Connery brillant dargestellt – erinnert an manische, vom Hass zerfressene Cops des Film Noirs wie Detective Mark Dixon (Dana Andrews) in Otto Premingers Faustrecht der Großstadt (USA 1950), an Inspector Harry Martineau (Stanley Baker) in Val Guests Hetzjagd (UK 1960) oder an "Popeye" Doyle (Gene Hackman) in William Friedkins Neo Noir French Connection / Brennpunkt Brooklyn (USA 1971). Det. Mark Dixon prügelt beim Verhör einen Mann zu Tode und lässt die Leiche in Panik verschwinden, doch im Jahr 1950 musste Preminger dennoch mit einem Happy End aufwarten. Sidney Lumet konnte 1972 anders auftrumpfen und tut es auch, demzufolge der Film, dessen pointiert sparsame, dissonant elektronische Musik von Harrison Birtwistle das ihre dazutut, seinerzeit völlig floppte. Doch Sein Leben in meiner Gewalt, Sean Connerys Det. Sergeant Johnson auf der Jagd nach sich selbst, ist ein verkanntes Meisterswerk. Unbedingt ansehen!
Exzellente DVD-Ausgabe (2004) der MGM Home Entertainment GmbH - der Film ungekürzt im Originalformat, Tonspuren auf Englisch, Deutsch, Italienisch, Polnisch, Spanisch, wahlweise sechs verschiedene Untertitel, der Kinotrailer als Extra.