Carl-Gustaf Lindstedt, Sven Wollter, Thomas Hellberg, Håkan Serner, Ingvar Hirdvall
Stockholm, Schweden: Ein dunkel gekleideter Mann (Ingvar Hirdvall) sitzt des Nachts in einer nur spärlich beleuchteten Wohnstube am Schreibtisch und zieht sich Handschuhe an. Er erhebt sich, öffnet eine Schranktür, entnimmt ein in ein Küchenhandtuch eingeschlagenes Bajonett, das er aus der Scheide zieht und abwischt, bevor er das Tuch über eine Stuhhlehne wirft. Die Waffe steckt er in die Bajonettscheide zurück, dann verstaut er sie in einer Innentasche. Nun zieht er den Reißverschluss der Jacke hoch, setzt eine Schiebermütze auf und tritt aus der Tür. Mit einem VW Käfer fährt er durch das menschenleere Stockholm… Zur gleichen Zeit liegt ein Kommissar der örtlichen Polizei, Stig Nyman (Hadar Johansson), im Krankenzimmer einer Privatklinik und starrt an die Decke. Ein Geräusch lässt ihn in die Richtung der sich im Wind wiegenden Gardinen und Vorhänge vor dem geöffneten Fenster blicken. Nyman betätigt den Summer und eine Krankenschwester tritt herein, die bereits erwartete, dass er sich wegen eines Schmerzmittels melden würde. Sie verabreicht ihm eines, dann begleitet sie den schwerfällig gehenden Mann auf die im Korridor außerhalb gelegene Toilette. Zurück in sein Zimmer schafft es der Patient ohne ihre Hilfe, und er legt sich wieder in das Krankenbett. Erneut gibt es ein Geräusch und Stig Nyman stellt fest, dass die Vorhänge inzwischen zugezogen sind und erhebt sich. Er meint etwas zu sehen, als eine Faust ihn ins Gesicht trifft und Nyman in Windeseile mit einem Bajonett aufgeschlitzt wird…
„Der Mann auf dem Dach verfügt über diesen beißenden, schonungslosen Realismus und Minimalismus, den skandinavische Filme oft an sich haben“, schreibt Mauritia Mayer für Schattenlichter und trifft es. Denn Bo Widerbergs Inszenierung des klassischen Kriminaromans Den vedervärdige mannen från Säffle (EA 1971, auf Deutsch 1973 als Das Ekel aus Säffle) vom legendären Autorenpaar Maj Sjöwall und Per Wahlöö, die zugleich miteinander verheiratet waren, ist quasi der Startpunkt dessen, was Liebhabern der Kriminalliteratur oder auch skandinavischer Kinofilme und TV-Serien heute als “Nordic Noir“ geläufig ist. Bei Ranker rangiert er auf Platz 8 einer Liste mit dem Titel The Best Nordic Noir Movies, die im Ganzen 43 Produktionen aus skandinavischen Nationen umfasst. Per Wahlöö war schon ab 1965 an Film- und Fernsehproduktionen seiner Heimat beteiligt. Der erste Roman des Duos Sjöwall und Wahlöö mit dessen Kommissar Martin Beck wurde in Schweden von Autor und Regisseur Hans Abramson unterm Originaltitel Roseanna (SWE 1968) ins Kino gebracht. Interessanterweise war die nächste Verfilmung ein Neo Noir aus den USA, Stuart Rosenbergs Massenmord in San Francisco (USA 1973), der aus Martin Beck einen Jake Martin (Walter Matthau) werden ließ und mit Bruce Dern, Joanna Cassidy, Louis Gossett jr. und Anthony Zerbe einige fulminante Charakterdarsteller nutzte. In Der Mann auf dem Dach ist Carl-Gustaf Lindstedt als Martin Beck schlicht perfekt. Auch Sven Wollter, Thomas Hellberg und Håkan Serner als die ihm untergebenen Beamten der Mordkommission sind grandios. Es ist die oben zitierte Tristesse und der Büroalltag mit Automatenkaffee, Zigarettenqualm, Amtsstubenluft und konstanter Übermüdung, der vor allem in der ersten Hälfte den Charakter des Neo Noirs ausmacht. Es wundert nicht, dass Bo Widerberg einst angab, dass er sich diesbezüglich von William Friedkins Brennpunkt Brooklyn / The French Connection (USA 1971) inspiriert fand.
Widerbergs düsteres und gesellschaftskritisches Kriminaldrama fand seinerzeit weltweit seinen Weg in die Kinos, sogar in jene der USA und der DDR, hatte in der Bundesrepublik Deutschland seine Premiere jedoch erst im November 1978 im Fernsehen. Im Jahr 1977 wurde die Produktion in Schweden mit dem Fimpreis Guldbagge als bester Film und Håkan Serner als bester Darsteller ausgezeichnet. Nachdem Per Wahlöö 1975 an Krebs gestorben war und die Martin-Beck-Romane, die er mit Maj Sjöwall verfasst hatte, endeten, kam es ab 1980 vermehrt zu Verfimungen ihrer 10 Bücher um den Stockholmer Kommissar aus der Zeit von 1965 bis 1975. Bo Widerberg adaptierte in den 80ern Leif G.W. Perssons Kriminalroman Grisfesten (EA 1978) unter dem Titel Mannen från Mallorca (SWE/DNK 1984), der auf Deutsch als Der Mann von Mallorca einmal mehr nur in der DDR im Kino aufgeführt wurde, und besetzte zentrale Rollen mit Sven Wollter, Thomas Hellberg, Ingvar Hirdvall und Håkan Serner, die alle zuvor in Der Mann auf dem Dach mitgewirkt hatten. Lange Rede, kurze Sinn: Es ist höchste Zeit, dass Der Mann auf dem Dach als Initialzündung des Nordic Noirs auch hierzulande ein Publikum findet.
Es gibt unterm Originaltitel Mannen på taket eine exquisit restaurierte Fassung auf einer schwedischen BD (2011) oder auch 2DVD (2004) mit dem Werk ungekürzt im Originalformat, dazu schwedischen Originalton und optional schwedische, dänische, englische, norwegische und finnische Untertitel. Als Extras gibt es als Med sikte på realism eine 75 Minuten dauernde Dokumentation zur Produktion des Films von Ronny Svensson und Markus Strömqvist, dazu Radio- und Fernsehclips mit Bo Widerberg auf dem Jahr 1975 und einen Audiokommentar von Produzent Stefan Jarl und Schauspieler Sven Wollter. Die Fassung war Grundlage für die als Der Mann auf dem Dach erschienene deutsche DVD (2013) mit dem Film ebenfalls ungekürzt im korrekten Bildformat, dazu mit schwedischem Originalton und der deutschen Synchronisation, optional deutsche Untertitel, das Ganze ohne Extras.