Am seidenen Faden

© Columbia Pictures Corporation

Am Spätnachmittag ist es bereits dunkel und es regnet heftig. Ein Wagen, dessen Wischblätter über die Windschutzscheibe gleiten, saust durch einen Torbogen, an dessen Eingang ein Schild den Namen des Anwesens verkündet: Lowis Manor. Vor dem Landsitz im Licht der Scheinwerfer kommt der Wagen zum Stehen. Die Flügeltür des Hauses öffnet sich, die Dunkelheit verschluckt ihn… Der Versicherungsangestellte Oliver Branwell (Jack Hawkins) erwacht aus einem Alptraum, geht ins Badezimmer und wäscht sich mit kaltem Wasser das Gesicht. Aus seinem Bademantel fischt er ein Zigarettenetui und zündet sich eine Zigarette an. Er zieht die Vorhänge auf und blickt aus dem Fenster. Oliver Branwell erinnert sich, wie er am Weihnachtsabend, seinem zweiten bei der Versicherung Abercrombie & Son, London, vom Seniorchef (Malcolm Keen) den Auftrag erhielt, im Versicherungsmarkt Lloyd’s dessen Sohn Michael (Geoffrey Keen) zu treffen. Es sei keine große Sache, sagte der Alte, er sei zum Weihnachtsabend sicher wieder zurück. Bei Lloyd‘s wurde Oliver Branwell von Michael Abercrombie und seinem Kollegen Fred Connor (Patrick Holt) darüber informiert, dass auf dem bei Sladen in Sussex gelegenen Landsitz Lowis Manor der Eigentümer Tracey Moreton (Dennic Price) einen Schaden gemeldet habe. Connor überreichte Branwell die Akte, und letzterer fuhr in der Dunkelheit des Spätnachmittags dorthin. Tracey Moreton empfing den Versicherungsagenten persönlich und geleitete ihn unterm Regenschirm in seine Villa…

“There's nothing like an old flame to help the new fire along!” Vor fünf Jahren war Oliver Granwell bei der britischen Armee in Hongkong stationiert, wo er mit Sarah (Arlene Dahl) die Liebe seines Lebens traf, die mit ihrem Vater zusammen die ostasiatische Metropole jedoch Hals über Kopf verlassen musste. Nun trifft er sie als Ehefrau Tracey Moretons plötzlich in England wieder, und ihre Liebe entflammt erneut. Zugleich ist auf Lowis Manor nicht alles, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint… Autor, Produzent und Regisseur Sidney Gilliat (Achtung: Grün! / Narlose, UK 1946) gehörte zum Kernbestand der kreativen Köpfe im englischen Nachkriegsfilm. Er war in vielen Sparten heimisch, hatte einst für Alfred Hitchcocks Eine Dame verschwindet (UK 1936) das Drehbuch verfasst, und beweist auch bei Am seidenen Faden sein Gespür für Dramaturgie und Spannung. Die Darsteller und Darstellerinnen sind (mit wenigen Ausnahmen) gut gewählt. Die Schwarzweißfotografie von Gerald Gibbs (König der Unterwelt, UK 1948) an Orten in und um London ist über jeden Zweifel erhaben, und die Geschichte selbst hält einige Überraschungen bereit. Besonders geglückt ist die Art und Weise, wie der ehrliche Branwell, der für sich selbst und für Sarah stets das Beste will, sich in seiner Verblendung aus Liebe tief und tiefer in einer Schlamassel verstrickt, der ihn in einem potentiellen Mordfall zum Verdächtigen werden lässt. Eine Bande von Fälschern und Erpressern, ein von langer Hand eingefädelter Versicherungsbetrug und die für eine lange Zeit kapriziöse, undurchsichtige Herzensdame rücken Am seidenen Faden aufs Feld des Film Noirs, zumindest zu Teilen. Weit weniger gelungen ist das überraschend fade und spannungsarme Finale und ein Ende nach dem Motto Friede-Freude-Eierkuchen.

© Columbia Pictures Corporation

“She Played With Fire is (…) a little light-hearted as a film noir”, schlussfolgert Bruce Eder für AllMovie und ich kann ihm nur zustimmen. Die Produktionsgesellschaft hatte eindeutig dessen Unterhaltungswert, das zahlende Kinopublikum im Blick, das es weder überfordern noch deprimieren wollte. Ende gut, alles gut! So lautete noch vor dem ersten Drehtag die Devise, und so hinterlässt einen die Verfilmung des Romans Fortune Is A Woman (EA 1952, auf Deutsch 1958 als Fortuna ist eine Frau) mit einem Achselzucken. Trotz einer packenden ersten Hälfte und trotz der Schauspielerleistungen – Christopher Lee, Greta Gynt, Dennis Price und Patrick Holt sind in Nebenrollen exquisit – verflacht der Film im letzten Drittel zusehends. Jack Hawkins und Arlene Dahl haben eine gute Chemie miteinander, aber der Altersunterschied von 15 Jahren ist stark sichtbar, da Hawkins mit 46 nochmals 10 Jahre älter scheint, als er tatsächlich war. Obgleich er seine Sache im Ganzen nicht schlecht macht, wirkt er in diesem Segment der Erzählung deplatziert. Für Freunde der britischen Filmklassik und für Komplettisten des Brit Noir ist Am seidenen Faden leidlich unterhaltsam; ein Muss ist der Film allemal nicht.

Die britische Produktion im Vertrieb der Columbia Pictures Corporation erschien unter dem US-amerikanischen Verleihtitel She Played With Fire in den USA via Sony Pictures Home Entertainment in deren Choice Collection als DVD (2012), ungekürzt und im Originalformat (Widescreen 1.85:1) mit der englischen Tonspur ohne Untertitel und ohne Extras. In der mit 9 Filmen ausgestatteten Box Noir Archive Volume 3: 1957 – 1960 von Kit Parker Films gibt es eine BD-Edition (2019), die der DVD von 2014 gleicht und keinen höheren technischen Standard bietet, ebenfalls ohne Bonus-Features, allerdings mit englischen Untertiteln.