Freya Mavor, Benjamin Biolay, Elio Germano, Stacy Martin, Thierry Hancisse
© Tiberius Film GmbH
Paris, Frankreich, Mitte der 70er Jahre: Die Sekretärin Dany Dorémus (Freya Mavor) hat noch niemals das Meer gesehen, wie sie für sich selbst feststellt. Auf der Damentoilette der Werbeagentur, für die sie arbeitet, setzt sie sich vorm Spiegel ihre Brille auf, indessen zwei Kolleginnen sie auf die Party ansprechen, die heute am Abend stattfinden wird. Dany weiß noch nicht, ob sie hingehen wird. Die beiden necken sie, weil sie blass aussieht und offenbar während ihres Urlaubs nicht in der Sonne war. Eine empfiehlt ihr, sich eine Bräunungslampe zuzlegen, obgleich die wohl Krebs verursachen… Als Dany kurz darauf in ihr Büro tritt, erschrickt sie kurz, denn ihr Chef und Inhaber der Agentur, Michel Caravaille (Benjamin Biolay), steht dort und hat kurz vor Feierabend noch ein Anliegen. Morgen zur Mittagsstunde muss er nach Genf fliegen, wo er sich mit der Leitung von Milkaby treffen will. Der von Marty verfasste Bericht zur Konkurrenz sei unbrauchbar, er müsse nochmals abgetippt werden, ein Dokument von 50 Seiten. Er wolle ihr im eigenen Haus alles zur Verfügung stellen. Außerdem würde sich Anita (Stacy Martin), seine Ehefrau und einst Danys Kollegin und Freundin, sicher freuen, sie nach über drei Jahren wiederzusehen. Dany Dorémus ist von dem Arrangement nicht gerade angetan. Caravaille lässt jedoch keinen Widerspruch zu. Also fahren sie zuerst zu Danys Wohnung, wo sie sich umzieht und einige Toilettenartikel einpackt. Die Arbeit wird lange dauern; daher soll sie im Gästezimmer der Familie Caravaille übernachten…
Die Erstverfilmung von Sébastien Japrisots fulminantem Kriminalroman La dame dans l'auto avec des lunettes et un fusil (EA 1966, auf Deutsch 1967 als Porträt einer Dame im Auto mit Brille und Gewehr) wurde die letzte Regiearbeit des einst auch in Hollywood tätigen, russischstämmigen Anatole Litvak (Blues In The Night, USA 1941), der zusammen mit Japrisot auch das Drehbuch verfasst hatte. Die Stars der französisch-amerikanischen Co-Produktion, die als Die Dame im Auto mit Brille und Gewehr (FRA/USA 1970) auch ins deutschsprachige Kino kam, waren seinerzeit Samantha Eggar, Oliver Reed und Stéphane Audran. Trotz Beteiligung Japrisots am Skript war das Ergebnis lediglich solide, da es als Film zwar halbwegs spannend, aber nicht ansatzweise so bizarr, dunkel, verwirrend und gleichzeitig unwiderstehlich wie der Roman geriet. Genau 45 Jahre später bringt der Regisseur Joann Sfar eine zweite Adaption ins Kino, deren Drehbuch von Gilles Marchand und Patrick Godeau den Charakter von Japrisots Buch weit besser einfängt, als es einst Anatole Litvak gelingen wollte. Zudem verpflichtete Sfar mit der noch fast unbekannten und zur Zeit der Dreharbeiten 21-jährigen, aus Schottland stammenden Freya Mavor eine ebenso talentierte wie ungewöhnliche Schauspielerin in der Hauptrolle, der er den gleichermaßen eigenwilligen Benjamin Biolay an die Seite stellte... Als die unscheinbare Sekretärin Dany Dorémus den metallic-blauen 1966er Ford Thunderbird ihres Chefs vom Flughafen Paris-Orly zurück zu dessen Stadtvilla kutschieren soll, beschließt sie kurzerhand, die luxuriöse Karosse übers Wochenende für einen Ausflug ans Meer zu nutzen. Doch auf ihrem Weg begegnet sie plötzlich Menschen, die sie bereits am Vortag gesehen haben wollen, und an einer Tankstelle auf dem Land wird sie auf der Toilette überfallen und verletzt… Ihre Reise nimmt noch weitere, unerwartete Wendungen und bringt die ahnungslose Frau schließlich derart in Bedrängnis, dass sie an ihrem Verstand zu zweifeln beginnt.
© Tiberius Film GmbH
“The film has a noirish dream-like quality, handsomely shot on location and very much a star turner for Mayor“, schreibt David Vineyard für Mystery*File und liegt mit allem richtig, abgesehen von der in Aussicht gestellten Möglichkeit eines Durchbruchs für Freya Mavor, der schlicht und ergeifend nicht stattfand. Letzteres ist der Tasache zu verdanken, dass das von Regisseur Joann Sfar und seinem belgischen Kameramann Manuel Dacosse mit viel Blick für Drehorte und Ausstattung erstellte und dann von seinem internationalen Ensemble und einer geglückten Adaption der Romanvorlage profitierende Werk an der Kinokasse floppte. Weder die Kritiker noch das Publikum konnten der genuin cineastischen Adaption viel abgewinnen, degestalt erschien die Geschichte verrätselt und ihre Protagonisten bizarr. Abseit von 08/15-Thrillern aus Hollywood mit deren Gewaltorgien und ihrer Heldenverehrung scheint der Neo Noir heute bestenfalls noch ein Nischenpublikum anzusprechen, und zumindest ich bewerte das als traurig. So erlitt Joann Sfars Film, der in Deutschland nicht ins Kino kam und unter seinem englischen Titel (!) auf BD und DVD erschien, das gleiche Schicksal wie Thomas Arslans Im Schatten (GER 2010), Sean Ellis‘ Metro Manila (UK/PHI 2013) oder Borys Lankosz‘ Ziarno Prawdy (POL 2015). Auch diese Filme waren eigenwillig und teils bizarr, erlangten mitunter den Respekt und die Lobpreisung eines vereinzelten Kritikers, so dass sie auf Filmfestivals zu sehen waren, um aus dem Gedächtnis der Filmhistorie ruckzuck zu verschwinden.
Eine deutsche Blu-ray disc bzw. DVD der Tiberius Film GmbH (2015) bietet den Film ungekürzt und im Originalformat, bild- und tontechnisch erstklassig, dazu wahlweise deutscher oder französischer Ton, optional deutsche Untertitel, das Ganze mit deutschem Trailer und mit dem internationalen Kinotrailer als Extras. Empfehlenswert!