Bewertung
****
Originaltitel
Graceland
Kategorie
Neo Noir
Land
PHI
Erscheinungsjahr
2012
Darsteller
Arnold Reyes, Menggie Cobarrubias, Dido De La Paz, Leon Miguel, Ella Guevara
Regie
Ron Morales
Farbe
Farbe
Laufzeit
80 min
Bildformat
Widescreen
Manila, Hauptstadt der Philippinen: Der Chauffeur Marlon Villar (Arnold Reyes) erhält einen Anruf seines Arbeitgebers, des Politikers Manuel Changhos (Menggie Cobarrubias), der ihn sofort braucht. Durch nächtliche Straßen fährt Marlon zu einem Kinderbordell, wo er von Ghanghos den Auftrag erhält, das Schulmädchen ChiChi (Yam Wilson), das von dem Mann mit Alkohol gefügig gemacht wurde, zu ihrer Großmutter (Angie Ferro) zurückzufahren und ihr Schweigegeld zu überbringen. Als Marlon, der für seinen Herrn nicht zum ersten Mal derartige Dienste verrichten muss, bei der Alten ankommt, riecht sie den Braten und beschimpft Marlon, der ihr ausweicht und sich von dannen schleicht. Am nächsten Morgen weckt Marlon in ihrer amseligen Behausung seine Tochter Elvie (Ella Guevara). Die beiden beten und gedenken Frau und Mutter Lina (Angeli Bayana), die zurzeit im Krankenhaus liegt. Per Minibus fahren Elvie und Marlon zur Villa Manuel Changhos, wo dessen Ehefrau Marcy (Marife Necesito) mit ihrer Tochter Sophia (Patricia Gayod) just aus der Haustür tritt. Elvie und Sophia sind ungefähr gleichen Alters, sie albern mit einem Handy herum, das Sophia der Freundin schenken möchte, doch Marcy Manghos ruft ihre Tochter zur Ordnung, und Marlon Villar entschuldigt sich. Erst fährt er Sophia in die Schule, dann Elvie, mit der er später Lina besuchen will. Aber die beiden Kinder schwänzen ihre Schule und gehen shoppen, indessen ChiChis Großmutter vor die Fernsehkameras tritt und Manuel Changhos anklagt…
In Deutschland erhielt dieser Film eine FSK-12-Freigabe, aber Graceland ist für Menschen aller Altersstufen harte Kost. Er zeigt nicht explizit schwere körperliche Gewalt und er schwelgt nicht in Sexszenen, aber er ist so abgründig und amoralisch, das es beizeiten nicht leicht ist dem beizuwohnen. In Graceland geht es deszidiert um Kinderprostitution, ums Geschäft mit den Körpern merjähriger Mädchen also, es geht um die Entführung von Kindern und es geht um Kindesmord. Hier sieht man, was für Filmstudios in Hollywood und in vielen europäischen Staaten ein Tabu ist. Wird dort derlei thematisiert, bleiben die wirklich harten Aspekte des Themenkreises außerhalb der Leinwand. Mitunter wird angedeutet, was passiert, selten wird es gezeigt. Die tief wurzelnde Angst, das eigene oder überhaupt ein Kind möge zur Zielscheibe eines verbrecherischen Akts und beispielsweise entführt werden, wurde in den letzten 10 Jahren oft Thema eines Neo Noirs. Dante Lams Beast Stalker (HK 2008) oder Keun-sup Chungs Verjährung (KOR 2013) sind Beispiele für die tendenziell härtere Gangart Ost-Asiens. Ben Afflecks Gone Baby Gone - Kein Kinderspiel (USA 2007) oder Baran bo Odars Das letzte Schweigen (GER 2010) sind westliche Filme eines Kinos, das aufgrund der (potentiellen und/oder realen) Gewalt gegen Kinder schwer verdaulich bleibt. Ron Morales lässt in seinem Graceland nichts aus. Seine Geschichte offenbart derart viele Missstände und folgenschwere Irrtümer, dass man nach 80 Minuten gehörig durchatmen muss. Die Kinder sind Spielball der Gelüste moralisch entwurzelter Erwachsener, deren pervertierte Begierden oder deren feiger Egoismus nichts und niemanden erlösen, stattdessen immerzu neues, irreversibles Leid heraufbeschwören. Dieses Werk ist im Kontext zeitgenössischen Film Noirs wahrhaft dunkel, mit seinen kaputten und in ihren Wertekonstellationen schillernden Rollencharakteren - entschlossen, verzweifelt, besessen und völlig verblendet.
“Die Verunsicherung des Zuschauers, die eine wirkliche Qualität des Films ist, schleicht sich ein wie eine Krankheit“, schlussfolgert Michael Schleeh für Schneeland folgerichtig. In Akira Kurosawas Zwischen Himmel und Hölle (JPN 1963) wird der Sohn des Chauffeurs für den des reichen Arbeitgebers und Unternehmers gehalten und entführt. In Chan-wook Parks Sympathie for Mr. Vengeance (KOR 2002) ist die Entführung der Tochter eines ex-Arbeitgebers in familiären Bedürftigkeiten verwurzelt, eine Ausgeburt materieller Not. Beide Filme wurden als Einflussgeber für dieses Neo-Noir-Drama genannt. Auch ist Ron Morales’ Manila und seine Schauplätze - die Müllhalden, Schnellstraßen, Krankenhäuser, Kinderbordelle, Polizeireviere, usw. - ein Moloch des Verfalls und der Verwesung. Manilas Alltag ist stets von Dunkelheit geprägt; alle Räume sind eng, niedrig, veerschmutzt und von Kunstlicht erleuchtet. Sprechen Kinder zu Erwachsenen, sind ihre Stimmen so teilnahms- und hoffnungslos, als seien sie Roboter. Schon in der Eingangssequenz kommt ein Mädchen ans Auto und bettelt durchs offene Seitenfenster, dahinter Marlon Villar auf dem Fahrersitz schlummert, um etwas Geld, doch er hört sie gar nicht und sie geht fort. Ihre Stadt bietet den Bewohnern fast nichts und schon gar keine Sicherheit. Hinter jeder Straßenkehre lauert ein Abgrund; die Polizeigewalt ist so korupt wie die Politik. Wer nicht selbst Teil der Macht ist, muss damit rechnen, zum Spielball ihrer Willkür zu werden, und so klammert sich Marlon an seinen Job, den er zugleich so sehr verabscheut. Bezüglich seiner Figuren wäre dem Film etwas mehr Laufzeit gut bekommen, seine Charaktere bleiben zu skizzenhaft. Auch wenn wir zuletzt verstehen, wie sie zueinander stehen, ist darin das Bedauern beinhaltet nicht mehr zu erfahren - 80 Minuten sind zu knapp. Allemal ist Graceland ein ebenso harter wie sehenswerter Film, meilenweit jenseits des Popcorn-Entertainments aus Hollywood und das ist (nicht nur, aber auch) wohltuend.
Exzellente BD- und DVD-Editionen (2014) der OFDb Filmworks, Bremen, mit dem Film ungekürzt im Originalformat, wahlweise Tonspuren auf Deutsch (nicht empfehlenswert) sowie original Tagalog, optional deutsche Untertitel, dazu zwei Kinotrailer, Festival Teaser, geschnittene Szenen, ein alternatives Ende, The Making of Graceland: A Life For Every Lie und diverse Audiokommentare als Extras. Empfehlenswert.