Post Noir
| International
| 1959
| Jerzy Kawalerowicz
| Ignacy Machowski
| Leon Niemczyk
| Teresa Szmigielówna
Bewertung
****
Originaltitel
Pociag
Kategorie
Post Noir
Land
POL
Erscheinungsjahr
1959
Darsteller
Lucyna Winnicka, Leon Niemczyk, Teresa Szmigielówna, Zbigniew Cybulski, Helena Dabrowska
Regie
Jerzy Kawalerowicz
Farbe
s/w
Laufzeit
93 min
Bildformat
Vollbild
In der Stadt Łódź steht im Durchgangsbahnhof Kaliska auf dem Gleis 5 abfahrbereit ein Expresszug, der seine Passagiere jetzt zu Beginn der Sommerferien nach Hel an Pommerns Ostseeküste bringen wird. Nach und nach füllen sich die Waggons der unterschiedlichen Komfortklassen unter den Augen der Schaffnerin (Helena Dabrowska) und ihres Kollegen (Tadeusz Gwiazdowski). Auch Jerzy (Leon Niemczyk) ist auf diesem Bahnsteig zum Schlafwagen erster Klasse unterwegs, als er mit dem jungen, ihm unbekannten Staszek (Zbigniew Cybulski) zusammen stößt und sich entschuldigt. Direkt vor ihm betreten ein Anwalt (Aleksander Sewruk) und dessen Ehefrau (Teresa Szmigielówna) den Waggon. Jerzy muss mit der Schaffnerin sprechen, denn er hat zwar ein Abteil für sich reserviert, aber genau diese Reservierung hat er dummerweise vergessen. Sie lässt ihn jedoch hinein, weil sie damit rechnet, dass irgendjemand nicht mitfahren und deshalb ein Abteil übrig bleiben wird. Durchs herabgezogene Gangfenster kauft Jerzy die Abendausgabe einer Lokalzeitung. Immer mehr Passagiere füllen an diesem sonnigen Spätnachmittag den Zug, um die Nacht hindurch an ihren Ferienort zu reisen. Zuletzt springt auch Staszek auf, und er winkt einer Frau (Lucyna Winnicka), die sich jetzt, da die Dampflok Fahrt aufnimmt, nur wenig vor ihm aus einem Fenster lehnt und ihn nicht bemerkt oder zumindest vorgibt, sie täte es nicht. Dabei ist er einzig und allein Martas wegen überhaupt in diesem Zug. Indessen verhandelt Jerzy mit der Schaffnerin, beide Plätze des ihm zugewiesenen Schlafabteils für sich buchen zu dürfen, was diese erstaunt…
“A bird's-eye view of a crowded train station. A haunting, almost chilling jazz score with sensuous female vocals. Crisp black and white cinematography. You can't help but get the feel of a high quality noir film right from the first frame”, kommentiert Aditya Gokhale für Rotten Tomatoes und bringt damit vieles schon auf den Punkt. Auch Alfred Hitchcocks Verschwörung im Nordexpress / Der Fremde im Zug (USA 1951) beginnt mit dem Besteigen eines Zuges, dem die Konversation im Abteil nachfolgt; und Richard Fleischers Um Haaresbreite (USA 1952) spielt nahezu vollständig im Rahmen einer Zugreise – von deren Beginn bis zur Minute der Ankunft. In Jerzy Kawalerowicz’ Nachtzug ist es aber nicht nur die Zugreise, die mit einer erstaunlich beweglichen und innovativen Kameraarbeit scheinbar jedwedes Hindernis der Enge an solchem Ort überlistet. Es ist vielmehr die Nacht, die dem Film seinen Reiz gibt. Darin übernehmen die zentralen Charaktere, ob bewusst oder unbewusst, andere Rollen, als sie im Licht des Tages wohl gespielt hätten. Und solcher Reigen verzerrter Identitäten, der eher durch Leerstellen als durch aktives Lügen zustande kommt, ist Nährboden der psychologischen Tiefe, die Publikum und Kritik dem Film seit jeher zuschreiben. Tatsächlich sind vor allem die Porträts von Jerzy und Marta, die auf den Zuschauer eher wie Menschen auf der Flucht als solche mit einem Urlaubsziel wirken, von jener Art, dass sie den aufgeschlossenen Cineasten bei der Stange halten.
Ich erwähne Letzteres nicht grundlos, denn mancher Blockbuster-Fan, der sich im Kino lieber die Sinne platt schlagen lässt als einer Geschichte nachzuspüren, wird sich bloß gelangweilt finden. Bereits heute gibt es über das zwischen einem Film-Noir-Thriller und den Werken der Nouvelle Vague angesiedelte Drama abschätzige Kommentare, die genau darauf schließen lassen. Dabei steht sein Regisseur mit diesem Film einem Samuel Fuller etwa ebenso nahe wie einem Claude Chabrol oder François Truffaut. Vom Ende her ist im Nachtzug vieles weit weniger geheimnisvoll oder gar kryptisch, als es aus dem Erleben der Situation heraus erscheint. Staszek späht aus dem Dunkel des hinteren Waggons nach seiner Geliebten. Der Kette rauchende Jerzy philosophiert über die Unsinnigkeit jeder egoistischen Herangehensweise ans Erleben. Und Marta, deren mirakulöse Art in einem überraschenden Moment in die Verzweiflung kippt, trägt mit Ende Zwanzig in sich das Herz eines Teenagers… Tolles Ensembleschauspiel, erstklassige Musik, fulminante Kameraarbeit, sichere Regie und dazu reichlich Lokalkolorit in einem von Film Noir und Expressionismus beeinflussten Thriller. Die Geschichte will an einigen Stellen ein wenig zu viel in den Rahmen von 93 Minuten bringen, weshalb sie trotz konsequenter Schlussphase am Meisterwerk knapp vorbei schrammt. Kurz vor seinem Krebstod spielte Leon Niemczyk noch eine Nebenrolle in David Lynchs Inland Empire - Eine Frau in Schwierigkeiten (FRA/POL/USA 2006). Nachtzug ist ein sehenswerter und zeitenweise wunderbarer polnischer Film, der unbedingt eine deutsche BD- oder DVD-Edition verdiente und hiermit empfohlen sei.
Weltweit existieren verschiedene DVD-Editionen mit polnischem Originalton und zumeist mit optional englischen Untertiteln. Die Bildqualität ist nicht brillant, allemal sehr gut, und die US-Ausgabe von Polart (2006) bringt den Film ungekürzt im Originalformat mit mehreren Filmografien als Extras.