Ladislav Janský, Evelyna Steimarová, Jiří Bednář, Marie Krejčová, Jitka Zelenohorská
Prag, Hauptstadt der Tschechoslowakei: Auf einer Großbaustelle fährt ein Lastenaufzug abwärts. Unten erwartet der ungelernte Arbeiter Kája Micka (Ladislav Janský) die enthaltene Schubkarre und fährt sie hinaus, als er seinen Vater (Déda Papez) auf sich zukommen sieht. Der Alte mit der Schiebermütze herrscht seinen Sohn an, ihm das Geld zu geben. Aber Kája behauptet erst, dass er das Geld nicht habe und daraufhin, dass er es der Mutter (Nina Popeliková) geben werde. Sein Vater, der das Geld versaufen wird, lässt sich nicht beirren und nimmt Kája den Umschlag mit dessen Lohn ab. Zuhause schreit Kájas Schwester Ruza (Jitka Zelenohorská) ihn an, als sie fürchtet, ihr Bruder wolle sich inmitten der trocknenden Bettwäsche erhängen. Die mitleidlose Mutter rennt herbei, ohrfeigt den Jungen und brüllt, er habe das Geld selbst ausgegeben und werde daher eines Tages in einem Lager für Dreckssäcke wie seinesgleichen enden. Sie schmeißt ihn hinaus und ruft ihm hinterdrein, dass er sich andernorts etwas zu essen besorgen solle… In einem Imbisslokal verzehrt Kája eine Mahlzeit auf Kosten seines Freundes Hynek (Jiří Bednář), der ihn fragt, ob er wohl irgendwann auch mal eigenes Geld haben werde. Dessen Freundin Bimba (Evelyna Steimarová) verbietet ihm, den schweigsamen und gehetzten Freund weiter zu piesacken. Aber Zuhause bei Familie Micka geht die Mutter jetzt auf den Vater los, weil jener als Kohlenlieferant seine Firma bestehle, um sich zu besaufen, und Kájas älterer Bruder Rudolf (Petr Haničinec) muss die beiden trennen…
Nach drei Minuten und 40 Sekunden im Film wird Kája Micka aus der Hölle seines Elternhauses in eine Nervenheilanstalt eingeliefert. Dort verstehen die Psychotherapeuten sofort, dass nicht der eigenwillige und verstockte Junge sondern dessen Familienverhältnisse das Problem sind. Nach sieben Minuten im Film wird er aus der Anstalt entlassen, fährt nach Hause zurück, und nun beginnt Ivo Nováks Film, der uns seine Geschichte erzählt. Letztere ist nicht besonders komplex. Sie berichtet von der Gefühlskälte, Illoyalität und einer endlosen Serie von Enttäuschungen in einer Familie, darin einzig Schwester Ruza bedingungslos zu ihm hält und ihn von Herzen liebt. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes voller Talente, seien es das Gitarrenspiel, seine Affinität zur Musik generell oder seine Kletterkünste, die ihm vom gesellschaftlichen Umfeld sukzessive ausgetrieben oder für andere Zwecke missbraucht werden. Kája, mit Spitznamen „Katze“ gerufen, ist zwischen ihnen allen und für alle immer ein Außenseiter, der von Mutter und Vater nur Kälte, Ablehnung und Egoismus gewohnt ist und welcher sich seinen Freunden nicht zu offenbaren getraut. Letzteres wird endgültig zum Markenzeichen seiner Natur, als sich Friseurin Bimba, die er mit seinem Freund Hynek einst zeitgleich kennenlernte, im Zug der Entwicklung ihrer Freundschaft für letzteren entscheidet. Kája ist von Anbeginn in sie verliebt, vermag es aber nicht zu zeigen. So lässt er sich auf eine Affäre mit der deutlich älteren Witwe und Übersetzerin Irina (Dana Richterová) ein, die er im Kino kennenlernt. Letztere schätzt ihn nicht allein der sexuellen Freuden wegen. Aber zu helfen vermag sie, die vor allem sich selbst hilft, letztlich auch nicht.
“On the Tightrope can be thematically categorized as a film reflecting on youth life, but (…) returns to the depressing reality of a poor household and hard labor in the Kladno steelworks”, schreibt Veronika Zýková über das unterm englischen Titel auf dem Noir Film Festival in Český Šternberk, Tschechien, im August 2024 aufgeführte Werk. Wo genau ist der Film Noir in dem Drama? Am Seil, so der deutsche Verleihtitel angesichts seiner Aufführung in der DDR, ist ein ambitionierter und mit Blick auf seine Bildsprache durch den grandiosen Kameramann Stanislav Milota (Schwindelgefühl, CSK 1963) und die verschachtelte Struktur seiner Rückblenden ein kunstvoll inszenierter Film. Kája Micka verweigert sich mehr und mehr, er wird kriminell und trifft falsche Entscheidungen, aber es ist Kájas Eingliederung in ein Leben der Arbeit, der Kameradschaft unter Kollegen und einer adäquaten Liebesbeziehung, die ihn zu guter Letzt gescheitert und verloren wirken lässt. Was oberflächlich wie eine geglückte Anpassung an die Verhältnisse wirkt, eine seinerzeit mit Blick auf Zensur und Staatsräson sicher beabsichtigte Politur, ist der Verlust von Individualität zugunsten einer Zukunft im Mittelmaß, welcher ein Beigeschmack von Selbstaufgabe und -verleumdung anhaftet. Letzteres ist nicht auf einen Staat und dessen ideologische Ausrichtung beschränkt. Am Seil liefert eine Coming-Of-Age-Geschichte in der Nachbarschaft von Mark Robsons Auf des Schicksals Schneide (USA 1950) oder Joseph Loseys Die Nacht der Wahrheit (USA 1951). Stanislav Milota wurde 1969 nach dem Ende des Prager Frühlings als Dissident geächtet und mit Berufsverbot belegt. Ladislav Janský emigrierte in die USA, wo er unterm Pseudonym Ladi von Jansky als Fotograf u.a. für das Magazin Hustler und für Frank Zappa arbeitete. Er starb 1992 im Alter von nur 48 Jahren.
Weltweit gibt es meines Wissens bis heute (2024) keine BD oder DVD des Films, der auf dem Noir Film Festival in einer exquisit erhaltenen Fassung inklusive englischer Untertitel aufgeführt wurde. Das wird sich hoffentlich ändern, denn Am Seil ist ein Klassiker seiner Zeit und ein Beleg für die innovative und hoch entwickelte tschechoslowakische Filmproduktion im Fahrwasser ihrer Neuen Welle, der das Werk zumindest zu Teilen zuzurechnen ist.