Krisztián Kolovratnik, Réka Tenki, János Kulka, Adél Kováts, Zsolt Anger
Der Nyugati pályaudvar, Westbahnhof, in Budapest, Königreich Ungarn, im Oktober 1936: Eine Dampflok erreicht die Donau-Metropole, indessen Soldaten in Paradeuniform und Würdenträger des Staates auf dem Bahnsteig Spalier stehen. Denn der aus München kommende Zug birgt in einem prunkvoll geschmückten Sarg den Leichnam des vor wenigen Tagen in der Ferne verstorbenen Ministerpräsidenten Gyula Gömbös. Noch zur Mittagsstunde ist in der Hauptstadt seine Beerdigung anberaumt. Zur gleichen Zeit geht der Journalist Zgismond Gordon (Krisztián Kolovratnik) von der Tageszeitung Az Est in Hut und Mantel zum Zeitungskiosk von Kovách (Balázs Galkó) und kauft ein Päckchen Zigaretten. Der kriegsversehrte Kovách und der Reporter kennen sich gut. Als der Alte erwähnt, dass er allein deshalb nicht in die Politik zu gehen wünsche, weil er zu schlau dafür sei, muss Zsigmond Gordon lachen. Er begibt sich geradewegs in ein Lokal namens Abbazia, schnappt sich die Zeitung, studiert deren Schlagzeilen und sinniert über Gyula Gömbös, der es nun doch nicht schaffte, sich im Pakt mit den Nationalsozialisten Deutschlands als Alleinherrscher zu inszenieren. Indessen er auf der Empore Platz nimmt und zu arbeiten beginnt, wird er von einer gepflegten, jungen Frau (Franciska Töröcsik) beobachtet, die im unteren Schankraum ihr Mittagessen einnimmt. Behutsam säubert sie mit einer Serviette ihre tiefroten Lippen und begibt sich dann mit einer Zigarrette in ihrer Rechten auf den Weg zu Gordon die Treppe hinauf…
“With classical craftsmanship, Budapest Noir shines particularly brilliantly thanks to the very accomplished patina of its reconstruction, owing a lot to the talent of Elemér Ragályi, director of photography”, schreibt Fabien Lemercier für Cineuropa und trifft den Nagel auf den Kopf. Doch Ragalyi ist nicht der einzige der Beteiligten vor und hinter der Kamera, der solchem waschechten Film Noir nach Vilmos Kondors Roman Der leise Tod (EA 2008 als Budapest Noir, auf Deutsch 2010) eine Aura der Exzellenz und Authentizität verleiht. Letzteres ist der Fall, weil die leidenschaftliche Inszenierung der Regisseurin Éva Gárdos in der Darstellung einer Epoche derart viel Liebe und Sorgfalt offenbart, dass sie den meisten historischen Szenarien des Retro Noirs überlegen ist. Es ist nicht zuviel gesagt, ihren Budapest Noir mit Perry Mason – Season One (USA 2020) von HBO oder auch David Ondříčeks Ve Stinu (CZ/SVK/POL 2012) auf eine Stufe zu stellen, die ihrerseits fantastisch inzeniert sind und durch einen couragierten Zugriff auf ihre Geschichten zu überzeugen wissen. Als am Tag der Beerdigung des just in München verstorbenen Ministerpräsidenten Gyula Gömbös eine namenlose Prostituierte ermordet aufgefunden wird, zeigt der zuständige Kriminalkommissar der Mordkommission, Andor Géllert (Zsolt Anger), keinerlei Engagement, sich um den Fall zu kümmern. Zsigmond Gordon hingegen, der der Frau kurz zuvor begegnete, hat schnell einen Brandgeruch in der Nase. Und nachdem die Leiche der Frau aus der Gerichtsmedizin verschwunden ist, beginnt er einige Puzzleteile zusammen zu setzen. Seine Untersuchung führt ihn in Tiefen und in die obersten Etagen der ungarischen Gesellschaft seiner Zeit, welche solche Schnüffelei bald als störend ansieht.
Dunkle Wolken ziehen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs an jenem Horizont der Nationen Europas herauf: Genusssucht und Profitgier, Antisemitismus und Nationalsozialismus sowie die systematische Einschüchterung von Minderheiten in einem Klima der Zukunftsangst und Hoffnungslosigkeit erzeugen einen gesellschaftlichen Sog, dem viele zu entrinnen hoffen. Die Tragik verlorener Liebe lauert hinter jeder Kehre, nicht allein in der jüngeren Vergangenheit des Protagonisten Zsigmond Gordon, der in Manier der Privatdetektive klassischen Film Noirs durch seine Heimatstadt streunt. Er ist nicht so tough wie Philip Marlowe, allemal hart im Nehmen, erinnert als Reporter an Harry Mitchell (William Gargan) in Cyril Endfields The Argyle Secrets (USA 1948) oder Ed Adams (Alan Ladd) in Lewis Allens Die Todesfalle von Chikago (USA 1949). Zudem sind es die weiblichen Rollencharaktere und ihre Darstellerinnen, die dem von Éva Gárdos inszenierten Budapest Noir zusätzlich Flair verleihen: Réka Tenki, Kata Dobó und Franciska Töröcsik sind wunderbar. Bedauerlich bleibt, dass im Roman dezidiert ausgeführte Aspekte zu politischen Vertstrickungen mit dem Dritten Reich und zur Zunahme antisemitisch motivierter Gewalt recht kurz kommen. Weit bedauerlicher aber ist, dass solches Kleinod europäischen Kinos in den USA mit Wohlwollen goutiert wurde, in Deutschland aber quasi nicht existiert. Weder auf hiesigen Filmfestivals noch im Kino, weder in Streamingportalen noch auf BD und DVD war oder ist es für ein Publikum zugänglich. Nein, man muss das nicht kommentieren. In welchem Ausmaß osteuropäisches Kino hierzulande inzwischen ignoriert wird, stimmt dennoch traurig.
Von Menemsha Films (USA) existiert jeweils eine exquisite BD- und DVD-Ausgabe (2020, RC 1) mit dem Film ungekürzt im Originalformat inklusive des ungarischen Originaltons und mit optional englischen Untertiteln, dazu gibt es den Kinotrailer als einziges Extra. Es wurde auch eine ungarische DVD-Edition publiziert, allerdings taucht diese in hiesigen Kanälen des Filmvertriebs praktisch nie auf.