Mädchenhandel

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Film Noir Collection Koch Media GmbH


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Bewertung
****
Originaltitel
La tratta delle bianche
Kategorie
Film Noir
Land
ITA
Erscheinungsjahr
1952
Darsteller

Eleonora Rossi Drago, Marc Lawrence, Ettore Manni, Silvana Pampanini, Vittorio Gassman

Regie
Luigi Comencini
Farbe
s/w
Laufzeit
97 min
Bildformat
Vollbild

 


 

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In der italienischen Küstenstadt Genua fahren des Nachts im Industriehafen zwei schwere Limousinen vor und halten an der herabgelassenen Gangway eines Frachtschiffs. Ein Advokat (Antonio Nicotra) steigt aus, erklimmt mit einer Aktenmappe unterm Arm das Schiff und kehrt schnell wieder zurück. Nun entsteigen den Limousinen ein Dutzend junge Frauen und drei Männer in Mänteln und Hüten, unter ihnen Manfredi Marchedi (Marc Lawrence), der die Stadt und Region kontrollierende Mafiosi. Die Herren beobachten, wie die Damen eine nach der anderen an Bord gehen, und als sie allein zurückbleiben, informiert der Advokat Marchedi, dass eine namens Alda (Eleonora Rossi Drago) nicht erschienen sei, was jener scheinbar desinteressiert zur Kenntnis nimmt… In der Halle einer Sportanlage läuft das Rückschlagspiel Jai Ala, eine Pelota-Variante, mit vier Spielern, und die hinter einem Schutznetz platzierten Zuschauer, die ihre Wetten abgaben, fiebern mit. Der ebenfalls mit Marchedi liierte Michele (Vittorio Gassman) zerreißt frustriert seinen Wettzettel und eilt zu seinem Brötchengeber, als er ihn in der Menge der Zuschauer erspäht. Er habe das Mädchen Alda, was gestern nicht verschifft werden konnte, heute in den Slums in der Hütte von Carlo Sozzosi (Ettore Manni), einem just entlassenen ex-Häftling, erspäht. Marchedi bedankt sich, und Michele, der aufgrund seiner Wettsucht bei ihm in der Kreide steht, bittet um einen Bonus. Doch Marchedi macht ihm klar, dass das so nicht ewig weitergehen könne. Auch über ihm gäbe es noch einen Boss…

 

„Die Frauen aus La tratta delle bianche sind ganz unten, aber es geht immer noch tiefer“, schreibt Oliver Nörding in seiner Besprechung des Werks für Remember it for Later. Indessen viele Film-Noir-Klassiker Gangster und kriminelle Vereinigungen als Profiteure des Drogenhandels, der Erpressung oder eines klassischen Raubüberfalls vorführen, trägt Mädchenhandel deren Geschäftsinteressen schon im Titel. Junge Frauen, die über keine Familienangehörigen oder nur über solche in Armut und damit ohne Stimme und Einfluss verfügen, werden als Sklavinnen nach Übersee verschifft. Ähnlich wie in Pietro Germis Il testimone (ITA 1946) und in Giuseppe De Santis‘ Bitterer Reis (ITA 1949), Oliver Nörding zieht ebenfalls den Vergleich, ist Luigi Comencinis dunkles Drama explizit sozialkritisch. Es führt das Italien der Nachkriegszeit als einen Staat vor, darin Teile der Bevölkerung in Slums hausen, von den Behörden nur Schikanen erwarten können und sich in einem quasi rechtsfreien Raum befinden. Im Küstenort Genua ist die Zugehörigkeit zur organisierten Kriminalität der einzige Ausweg aus solchem Dilemma. Geldverdienen ist ausschließlich auf der anderen Seite des Gesetzes möglich und Ehrlichkeit, was sich am wenigsten auszahlt: sie führt nicht allein in Armut, sie führt ins Verderben. Denn wer einmal in der Armut angelangt ist, dem fehlen jegliche Mittel sich gegen die Handlanger der organisierten Kriminalität, die allein die Gesetze schreibt, zur Wehr zu setzen. Mädchenhandel beinhaltet keine Charakterstudien, sehr wohl aber ein Sittengemälde der italienischen Gesellschaft in den frühen 50er Jahren, und dafür steht Autor und Regisseur Luigi Comencini ein exquisites Ensemble zur Verfügung. Vittorio Gassman, Ettore Manni, Marc Lawrence, Eleonora Rossi Drago und eine junge Sophia Loren bieten fulminantes Schauspiel, und nichts im Film beeindruckt mehr als dessen Drehorte. Mädchenhandel ist ein waschechter Film Noir, von Anbeginn von einer Hoffnungslosigkeit und einer Verzweiflung geprägt, die ihn mit den dunkelsten Dramen in der US-Kinogeschichte der 40er Jahre auf eine Höhe heben.

 

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Ein Tanzmarathon im Zentrum der Handlung, welcher seinen Teilnehmerinnen (und scheinbaren Teilnehmern) hohe Prämien und bestenfalls ein lukratives Arrangement in den USA verspricht, ist eine Tortur. Als Zuschauer weiß man, dass alles ein von Manfredi Marchedi, dem Mafiosi im Hintergrund aller Geschäftsaktivitäten der Region, arrangierter Betrug ist. Luigi Comencini trägt Sorge, den Film von einer in Anbetracht des Oberthemas – junge Frauen werden als Leibeigene in ferne Länder verkauft - naheliegenden Sexualisierung seiner Rollencharaktere freizuhalten. Dennoch war man sich in jener von Tabuisierung und bürgerlicher Moral ins Korsett der Sittlichkeit geschnürten Epoche nicht zu schade, den Film als ein skandalöses Epos zu vermarkten. In den USA wurden 30 Minuten, fast ein Drittel der Spielzeit, weggekürzt und das Werk 1954 unterm grotesken Titel Girls Marked Danger als eine aufs Banalste reduzierte Fassung gezeigt. Noch heute schwadronieren Filmkritiker von einem “Potboiler“, was meiner Ansicht nach Schwachsinn ist. Luigi Comencinis Mädchenhandel ist eine bitterböse Bestandsaufnahme der Missstände im Italien jener Nachkriegszeit, darin schon damals das organisierte Verbrechen die Fäden der Macht fest in Händen hielt und quasi Narrenfreiheit hatte. Nicht die Polizei, die Betroffenen setzen sich am Ende dagegen zur Wehr. Für manche kommt allerdings jegliche Hilfe zu spät, und das Ausmaß der Kälte und des Sozialdarwinismus‘ bleibt in solchem Kontext bis heute staunenswert. Ein guter, zu Teilen sehr guter europäischer Film Noir, der Freunden des Filmstils wärmstens empfohlen sei.

 

Unter dem Originaltitel La tratta delle bianche existiert in der Reihe I classico do cinema Italiano eine bild- und tontechnisch exquisit restaurierte italienische DVD-Ausgabe (2010) von Medusa Film S.p.A., ungekürzt und im Originalformat mit dem italienischen Originalton, dazu mit optional italienischen Untertiteln und ohne Extras. Eine französische DVD (2009) kann als La Traite des Blanches von M6 Vidéo in einem fein gestalteten Digipack mit Filmfotos sogar noch mehr überzeugen - ebenfalls italienischer Ton, Untertitel auf Französisch. Eine deutsche DVD (2014) aus dem Filmverlag Fernsehjuwelen unter dem deutschen Verleihtitel Mädchenhandel erschien mit lediglich der deutschen Kinosynchronisation, folglich ohne Originalton und ohne Untertitel. Ärgerlich ist auch, dass diese Edition mit Nennung von "Sophia Loren" auf dem Cover suggeriert, letztere würde eine tragende Figur spielen, indessen die seinerzeit 17-jährige als "Sofia Lazzaro" eine Mini-Rolle innehat. Wie man die VÖ eines internationalen Filmklassikers derart in den Teich setzen kann, bleibt mir unbegreiflich, aber der Filmverlag Fernsehjuwelen wiederholte das Desaster mit seiner DVD (2015) von Giuseppe De Santis‘ Bitterer Reis (ITA 1949), der sogar in einer um 9 Minuten (!) gekürzten Fassung erschien.

 


Film Noir | 1952 | International | Luigi Comencini | Marc Lawrence | Vittorio Gassman

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