Roldano Lupi, Marina Berti, Ernesto Almirante, Sandro Ruffini, Cesare Fantoni
In einer Metropole, so der Erzähler, scheinen die Menschen in ihrem Miteinander sich dem Getriebe der Stadt anzupassen, dabei sind sie weit voneinander entfernt... Im Gerichtssaal ordnet der Staatsanwalt (Pietro Sharoff), der eben in einem Mordfall sein Plädoyer hielt, unbeeindruckt seine Papiere. Das Leben von Pietro Scotti (Roldano Lupi) steht auf dem Spiel. Nun ist es dessen Verteidiger (Sandro Ruffini), der das Wort ergreift und die Geschworenen daran erinnert, dass der Angeklagte am Samstagabend des 3. Oktobers um 23:00 Uhr Zuhause gewesen sei, wie es ein Ladenbesitzer in dessen Haus bezeugte. Wie könne er folglich 10 Minuten später in einer Wohnung in der Via dell’Opera, wo exakt um jene Zeit die todbringenden Schüsse zu hören gewesen seien, einen Raubmord begangen haben, insofern seine Wohnstatt zu Fuß gut 20 Minuten von jenem Ort entfernt liege? Die vom Staatsanwalt melodramatisch vorgeführten, blutbefleckten Handschuhe, die im Auto des Ermordeten, zugleich Fluchtwagen des Mörders, gefunden wurden, sollen es belegen, tun es aber nicht… In diesem Moment kündigt das Gericht überraschend einen weiteren Zeugen an, der vom Staatsanwalt zwecks Aussage vorgeladen wurde. Ein kleiner, älterer Herr namens Giuseppe Marchi (Ernesto Almirante) betritt den Gerichtssaal und wird vereidigt, bevor er im Zeugenstand Platz nimmt. Er lese selten die Zeitung, gibt Herr Marchi zu Protokoll, daher sei er mit seiner Aussage spät dran. Am Samstag, den 3. Oktober, sei er abends selbst im Theater gewesen…
Vor allem die (nicht lizensierte) Verfilmung des Romans Die Rechnung ohne den Wirt, im Original The Postman Always Rings Twice (EA 1934), von James M. Cain, mit der Regielegende Luchino Visconti unterm Titel Ossessione - von Liebe besessen / Besessenheit (ITA 1943) debütierte, wird in vielen Nachschlagewerken heutzutage als eines der wenigen Beispiele für einen Film-Noir-Klassiker aus Italien geführt. Der Autor, Regisseur und Schauspieler Pietro Germi war für eine lange Zeit v.a. in Deutschland weit weniger bekannt. Die Wiederentdeckung seiner eindeutig zum Kanon des klassischen Film Noirs gehörigen Werke Jagd ohne Gnade / Bis zum bitteren Ende (ITA 1951) und Unter glatter Haut / Was geschah in der Via Merulana? (ITA 1959) durch eine internationale Gemeinschaft von Cineasten und Kulturjournalisten führte aktuell zu Aufführungen auf Filmfestivals und zu einem gesteigerten Interesse an seinem Werkskanon. Il testimone war Germis Erstlingswerk als Regisseur, daran er zugleich als Co-Autor am Drehbuch beteiligt war. Und tatsächlich weist solches dunkle Kriminaldrama mit Anleihen beim US-amerikanischen Film Noir einige Parallelen zu Viscontis drei Jahre zuvor erschienenem Ossessione - von Liebe besessen / Besessenheit (ITA 1943) auf. Auch hier lernt ein Tunichtgut beim Besuch einer Kneipe eine junge Frau kennen und verliebt sich in sie. Seine Gefühle werden erwidert, zumal er in den Künsten der Manipulation bewandert scheint, indessen sie über ihn und seinen Stand im Leben im Grunde nichts weiß. Wie in Viscontis Meisterwerk gibt es einen älteren Herrn, allerdings nicht Lindas Ehemann oder sonstwie mit ihr verbunden, der zu dem Paar, das zu heiraten beabsichtigt, in einer Beziehung steht und Pietro Scotti zunehmend gefährlich wird. Für letzteren wäre das Leben mit Linda und ihre Zukunft zu zweit einfacher, gäbe es diese Bedrohung nicht. Zunehmend wird er misstrauischer, seiner Verlobten gegenüber harsch und ruppig, die sich nun von ihm abgestoßen fühlt.
Pietro Germis Debüt ist kein Meisterwerk. Solche lieferte der unermüdliche Filmschaffende erst später ab. Es ist allemal ein pointiert geschriebenes Filmdrama, das sowohl von den Hauptdarstellern – Ernesto Almirante, Marina Berti, Roldano Lupi – als auch von der inspirierten Kammeraarbeit Aldo Tontis profitiert. Besonders beeindruckte mich das folgende: Als Pietro Scotti im Gefängnis auf seine Hinrichtung wartet, harrt in der ihm gegenüberliegenden Zelle ebenfalls ein zum Tode verurteilter Häftling, ein Mann namens Andrea (Dino Maronetto), auf seine letzte Stunde. Es ist sein Bericht von den Schönheiten des Lebens in Freiheit, der Pietro später zu Linda führen wird und von dort auf den Schicksalsweg, der zugleich die Filmhandlung ausmacht. Il testimone zeigt sich bis heute als Filmproduktion einer Zeit, da sich das europäische Kinodrama stets an der Literatur und am Theater orientierte und der Begriff „Drama“ ernsthaft eine Bedeutung hatte. Es ging nicht in erster Linie um Entertainment oder um zahlende Zuschauer und schon gar nicht um Effekthascherei und Bombast. Im klassischen Film Noir behandelten Werke wie Der Tag bricht an (FRA 1939), Entscheidung in der Sierra (USA 1941), Der Tote lebt (USA 1941) oder Die Narbenhand (USA 1942) die romantische Liaison zwischen dem Antihelden und der Schönen durchaus ähnlich. Aber Pietro Germis Film kann mit der Wiederaufnahme des Themas voll überzeugen und sollte auch hierzulande entdeckt werden.
Eine italienische DVD-Edition (2010) von Medusa Film SPA bringt den Film in deren Reihe I Classici Del Cinema Italiano ungekürzt im Originalformat, bild und tontechnisch solide mit der original italienischen Tonspur, leider einzig mit italienischen Untertiteln und ohne Extras.