Bruce Greenwood, Mia Kirshner, Don McKellar, Elias Koteas, Arsinée Khanjian
Am Flughafen von Toronto, Kanada, erklärt ein Zollinspektor (David Hemblen) einem Auszubildenden (Calvin Green), worauf man bei der Beobachtung der eintreffenden Passagiere zu achten habe. Die beiden befinden sich in einem Raum mit Einwegspiegel und sind für den in der Stadt ansässigen Tierhändler Thomas Pinto (Don McKellar), dessen Koffer soeben überprüft wird und der sich selbst in dem Spiegel anschaut, unsichtbar. Vor dem Terminal hat Thomas ein Taxi reserviert, als ein Mann (Peter Krantz) mit Umhängetasche hinzutritt und ihn fragt, ob sie sich die Fahrt in die Innenstadt teilen sollen. Thomas stimmt zu, und nachdem sie in der Dunkelheit des Abends vor dem Nachtclub Exotica zum Halten kamen, steigt der Fremde aus, holt einen Umschlag aus seiner Brieftasche und übergibt Thomas Pinto zwei Tickets für eine Ballettvorführung am heutigen Abend. Er sieht seine Beteiligung an den Fahrtkosten damit als erledigt an und geht davon, indessen auch das Taxi mit Pinto weiterfährt. Zur gleichen Zeit läuft Christina (Mia Kirshner) die Straße hinab. Sie arbeitet als Stripperin im Exotica, wo sie die Treppe zum Club emporsteigt, bevor sie in den von Musik erfüllten Saal tritt und von der Inhaberin Zoe (Arsinée Khanjian) begrüßt wird. Überall posieren fast unbekleidete Frauen vor den nur mit einem Mann besetzten Tischen. Das Exotica ist ein Ort, wo man sich um die jeweils besonderen Wünsche der Kunden kümmert, jeder Auftritt mit flinker Zunge moderiert vom DJ Eric (Elias Koteas) hoch oben auf seinem Balkon…
“Zoe, not all of us have the luxury of deciding what to do with our lives.” Für mich war dieser Satz der Schlüssel zur Tür, das den Zutritt zur Botschaft des Films gewährt. Dessen Künstlichkeit und Kunstfertigkeit sind in dem preisgekrönten Werk Atom Egoyans, der damit auf der Bühne internationalen Filmschaffens seinen Durchbruch verzeichnen konnte, bereits im Vorspann sichtbar. Zugleich ist das eine Geschichte über den Einzelnen im Bund von Familie, Freundschaft und Liebe. Während Thomas und Zoe das Erbe vom Vater bzw. der Mutter fortführen (müssen), sind Christina und Eric Entwurzelte, denen keinerlei Erbe mitgegeben scheint, um daran eine eigene Identität auszubilden. Sie scheitern zudem daran, sich gegenseitig Halt zu geben und sind, wie die Geschichte in geschickt montierten Rückblenden zeigt, zum Zeitpunkt der Haupthandlung ehemalige Berziehungspartner, woran vor allem Eric, nach außen cool und selbstsicher, im Stillen leidet. Im Fokus der Handlung steht jedoch der Steuerprüfer Francis Brown (Bruce Greenwood), der durch tragische Ereignisse in seiner Vergangenheit vollends aus dem Gleichgewicht geratene, allnächtliche Besucher des Nachtclubs Exotica, wo Christina ebenfalls jede Nacht in einer Schuluniform exklusiv an seinem Tisch ihre erotische Aufführung darbietet. Letztere unterliegt hausinternen Gesetzen: so ist dem Gast nicht erlaubt, seinerseits die Dame seiner Wahl zu berühren. Zudem ist das Verhältnis zwischen Francis und Christina längst nicht, was es auf den ersten Blick und aufgrund des Orts ihrer Zusammenkunft zu sein scheint.
“What’s open to question is whether this playful film-noir meta-thriller is more than a series of dazzling puzzle pieces”, gab Owen Gleiberman zur Premiere des Films für Entertainment Weekly zu bedenken und erweist sich damit jenseits der verführerischen Bildästhetik und der bizarren Rollencharaktere scharfsinnig. Auch ich war während des Films von der Montage und von der Redundanz einiger Aspekte in der Beziehung der Charaktere zueinander irritiert. Zudem fügt Arsinée Khanjian dem Kapitel der schauspielernden Ehefrau eines Regisseurs ein weiteres, zweifelhaftes Kapitel hinzu, denn ihre darstellerischen Qualitäten sind alles andere als berückend. Was Autor und Regisseur Atom Egoyan in den finalen 15 Minuten seinen Zuschauern enthüllt, rückt die Ereignisse der verschiedenen Zeitebenen der Handlung allerdings in bis dato unbekannte Zusammenhänge. Für mich hat es diesem Drama mit Blick auf die Verfassung und die Handlungen der einzelnen Rollencharaktere durchaus Substanz und Tiefe verliehen. Somit würde ich Gleibermans oben zitierte Frage mit „Ja, er ist mehr als nur die Teile eines Puzzles.“ beantworten. Nun ist Exotica ein grundsätzlich langsamer Film, dessen Elemente eines Thrillers sich überhaupt erst im letzten Drittel offenbaren. Insofern ist das Schauen selbst nicht sonderlich spektakulär. Demgegenüber gehört das Werk zu jenen cinestischen Erlebnissen, dessen Nachbilder einem noch über Tage im Gedächtnis haften bleiben und die wiederholt zum Nachdenken anregen. Ein sehr eigenwilliger und, wie ich finde, lohnenswerter Film aus dem Kanon des Neo Noirs der 90er Jahre.
Obwohl der Film seinerzeit auch im bundesdeutschen Kino gezeigt wurde, gibt es bis heute keine BD oder DVD davon. Eine englische BD oder DVD (2013) von Artificial Eye beinhaltet das Werk ungekürzt im Originalformat, bild- und tontechnisch exzellent mit der original englischen Tonspur ohne Untertitel, als Bonusmaterial findet sich die 52-minütige Dokumention Formulas of Deception: The Cinema of Atom Egoyan.