Corey Stoll, Billy Crudup, Marin Ireland, Yul Vazquez, Kelly Lynch
New Jersey unweit von New York in der kalten Adventszeit: Der früher als “The Saint” bekannte Boxprofi Bud Gordon (Corey Stoll) hat seine aktive Zeit im Sport hinter sich. Sein Versuch, vor Ort ein Restaurant zu eröffnen, scheiterte - Corey ist arbeitslos. Nicht einmal im lokalen Imbiss von Claude Papillion (Armand Dahan) will ihm der Besitzer Kredit gewähren. Im Trainingszentrum Yellow Bird Boxing ist es dessen Manager Lou Gibson (John Douglas Thompson), der “The Saint” gern als Trainer für seine Nachwuchshoffnung Kid Sunshine (Malcolm Xavier) verpflichtete, der in einigen Wochen einen Kampf um den Titel im Weltergewicht in Aussicht hat. Als Bud mit seinem Hund Silly nach Hause kommt, behagt ihm nicht, dass seine Freundin Ellen Doyle (Marin Ireland) in den Stellenanzeigen der Tageszeitung stöbert. Er bittet sie, ihm eine Woche Zeit zu lassen, alsdann würde er das Finanzielle wieder im Griff haben. So macht er sich abends in Ellens Wagen auf den Weg nach Manhattan und trifft in dessen Club den dubiosen Geschäftsmann J.J. Cook (Billy Crudup), einen ebenso glatten wie undurchsichtigen Freund der digitalen Revolution und des Boxsports. J.J. bietet Bud ebenfalls an für ihn zu arbeiten. Er möchte ihn mit seiner rechten Hand Roberto Flash (Yul Vazquez) auf Tour schicken - Botengänge und Gefälligkeiten, um Kunden und Partner bei Laune zu halten, wie er sagt. Und Bud Gordon ist dem Angebot gegenüber noch weniger abgeneigt, als er die hübsche Kellnerin Mae Graham (Kelly Lynch) kennen lernt…
“For the most part, Buschel's micro-noir has a rare and potent sense of menace”, schreibt Chris Cabin für das Slant Magazine, und womöglich ist genau das der Grund, warum der mit sichtbar schmalem Budget von Noah Buschel inszenierte Independentfilm einem Neo-Noir-Publikum im Grunde liegen müsste. Es sei denn, dieses Publikum wäre insgeheim doch auf Action und bluttriefende Verbrechen aus. Beides existiert in dem auf seine Charaktere fokussierten Drama ebensowenig wie schon in Noah Buschels gleichfalls dem Film Noir verpflichteten The Missing Person (USA 2009) mit Michael Shannon als alkoholabhängigem Privatdetektiv. Glass Chin ist, wie ich finde, frank und frei aus Bausteinen klassischer Kinotradition gestrickt und erneut gelingt es Buschel, damit dennoch in der eigenen Zeit anzukommen. Wir sehen seinen Charakteren beim Leben zu und trotz ihrer offensichtlichen Noir-Rollen - der Boxer, die Femme fatale, der Gangster und sein Ganove - rücken sie uns nahe, erscheint ihr Miteinander so alltäglich wie jeder Mitarbeiterplausch in einer Werkskantine oder der Partyklatsch überdrehter Hipster, die sich an ihre Studienjahre erinnern. Solange bis etwas für einen von ihnen Unerwartetes geschieht und alle exakt so reagieren, wie es außerhalb eines Hollywoodfilms wahrscheinlich ist, nämlich hilflos. Leider wird Glass Chin für seine zentrale Leistung am meisten gerügt, dass er als Neo Noir den Klischees von Action und Gewalt aus dem Weg geht, im Gegenzug an die Inszenierung eines Theaterstücks erinnert und dadurch beizeiten etwas steif und “artsy“ wird, was das Dekor und die Bühne betrifft.
“I miss heroine chic… badly. It’ll come back, though. Emaciated, suicidal teen haute couture.” Das Schauspiel ist demgegenüber die starke Seite des Films, wenn die mit Verve und Finesse aufspielenden Akteure ihre beizeiten an David Mamet gemahnenden Dialoge genussvoll zerkauen. Vor allem Billy Crudup, Yul Vazquez und Marin Ireland laufen zu Hochform auf und verleihen ihren jeweiligen Figuren Schärfe und Prägnanz. Dennoch ahnt der Zuschauer mehr, als er weiß. Und wenn seine Ahnung sich in Wissen wandelt, ist es schon zu spät - Film Noir eben. In der Hinsicht hat Noah Buschel, der als Autor und Regisseur zwischen 2003 und 2016 insgesamt sechs abendfüllende Spielfilme ins Kino brachte, seine Hausaufgaben gemacht. Angeblich ist Glass Chin mit einem Budget von 1 Million US-Dollar realisiert worden, eine überaus geringe Summe. Und mancher wundert sich bereits, dass die Filmindustrie dem Talent noch kein Angebot unterbreitete. So dass dieser mit viel, viel Geld endlich einen produktionstechnisch satten Hollywoodfilm drehen kann… Hm, vielleicht will er es gar nicht. Den mit The Missing Person (USA 2009) und mit Glass Chin konsequent umgesetzten Filmstil könnte er dann wohl als erstes über Bord werfen. So ist an der Zeit, genau das an Glass Chin lobend hervorzukehren - seine jenseits von Klischees aus Film und Fernsehen pointierte Dramaturgie. Damit ist er allerdings kein Film für jedermann, sondern einer für diejenigen, die Filme für Jedermann bewusst meiden.
Exzellente DVD-Edition (2015) von Entertainment One (USA, Regionalcode 1) mit dem Film ungekürzt im Originalformat, bild- und tontechnisch topp, dazu den englischen Originalton ohne Untertitel und ohne Extras.