Patrick Dewaere, Myriam Boyer, Marie Trintignant, Bernard Blier, Jeanne Herviale
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Paris, Frankreich: Der Handelsvertreter Frank Poulard (Patrick Dewaere) zieht in den Vorstädten mit seinem Musterkoffer von Tür zu Tür und versucht Leuten Haushaltswaren, Accessoires und Kleidung anzudrehen. Heute parkt sein Simca 1501 Break unter grauem Himmel und vor der Kulisse hoch aufragender Mietskasernen auf einer matschigen Brache und Poulard wiegt sich zum Klang alter Tanzklassiker aus dem Autoradio in den Hüften und probt manche Pantomime. Kurz darauf hält er vor dem verwahrlosten Haus einer älteren Dame (Jeanne Herviale) und trägt seinen Koffer durchs rostige Tor bis zur Treppe. Aus einem Fenster im ersten Stock blickt die hübsche Mona (Marie Trintignant) zu ihm herab. Poulard nimmt die Anwesenheit des Teenagers wahr, so als wüsste er, dass auch sie in diesem Haus lebt. Dann klingelt und klopft er ungeduldig an der Tür. Als die dicke Alte ihm öffnet, erkennt sie im Nu den Vertreter und will ihm die Tür vor der Nase zuschlagen. Frank Poulard macht sie darauf aufmerksam, dass er sich auf der Suche nach Andreas Constantin Tikides (Andreas Katsulas) befände, der bei ihr wohl hin und wieder tätig sei. Sie argwöhnt, dass Tikides ihm Geld schulde, aber Poulard verneint vehement und informiert die misstrauische Dame, dass es umgekehrt sei. Doch sie glaubt ihm kein Wort und gibt zu verstehen, dass Tikides ihre Kaninchenställe reparierte und sie ihn dafür auch bezahlte. Weil er sich betrogen fühlte, habe er daraufhin des Nachts alle ihre 17 Kaninchen in die Freiheit entlassen…
Manche Filme, obgleich sie im Vergleich mit anderen nicht sonderlich gewalttätig sind und auf Schockeffekte verzichten, sind wirklich harte Kost. Alain Corneaus Série noire ist solch ein Fall, denn die Darstellung seines Millieus und die Anlage der Rollencharaktere in der Adaption von Jim Thompsons Roman A Hell Of A Woman (EA 1954, auf Deutsch 1988 als Höllenweib) ist durch die Bank schonungslos. Selten sah ich eine Riege von Verlierern am unteren Ende des Kleinbürgertums in einer derart unglamourösen, ungeschminkten Art der Darstellung, wie sie uns Corneau in Série noire vorführt. Das hat sicher auch mit Jim Thompsons Vorlage zu tun, einer der härtesten Chronisten des US-amerikanischen Daseins seiner Zeit, der 1977 als langjähriger Alkoholiker nach mehreren Schlaganfällen durch Nahrungsverweigerung den Hungertod starb – ein Schicksal nicht minder hart wie so manch eines seiner Romanfiguren. Natürlich ist Patrick Dewaere, ebenso eine Legende samt einer Biografie mit bitterem Ende, geradezu perfekt für die Rolle des manierierten und glücklosen Handelsvertreters, dem erst die Ehefrau (Myriam Boyer) und dann der moralische Kompass abhanden kommt und der unterm Einfluss eines jungen Mädchens zum Mörder wird. Gibt es zwei Figuren aus der Historie des Film Noirs und des Neo Noirs, die mir beim Genuss des Werks sofort einfielen, waren das Harry Fabian (Richard Widmark) in Jules Dassins Die Ratte von Soho (UK 1950) und Dennis Pitt (Anthony Perkins) in Noel Blacks Der Engel mit der Mörderhand (USA 1968). Und selbstverständlich rangiert auch Martin Scorseses Taxi Driver (USA 1976) in unmittelbarer Nachbarschaft von Corneaus Neo Noir. In vergleichbarer Weise berichten auch die drei Produktionen vom Kontrollverlust und Niedergang ihrer Protagonisten. Das Besondere an Série noire ist, dass sich konträr zu vielen Klassikern des Film Noirs kein Gegenpol findet. Hier ist wirklich jeder und jede auf geradewegs animalische Art egoistisch. Und der einzige, der Frank Poulard womöglich ein Freund gewesen wäre, nimmt ein trauriges Ende.
„Die Trostlosigkeit des Films ist kaum zu ertragen“, schreibt Oliver Nörding für Remember It For Later mit Fug und Recht, nachdem er ihn wenige Sätze zuvor als „Hommage, Aktualisierung und Europäisierung sowie beinahe satirische Übersteigerung klassischer Noir-Motive“ eingestuft hat. All diese Begriffe treffen es. So wundert nicht, dass der beinharte, französische Neo Noir seinerzeit nicht im deutschen Kino zu sehen war und er trotz technisch exquisiter Restauration heute wie ein Blick in eine Phase der Filmgeschichte anmutet, die um vieles eigenwilliger, couragierter und kompromissloser als das meiste ist, was entweder in den 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts zu sehen war oder eben aktuell auf der Kinoleinwand zu sehen ist. Alain Corneau hielt bis zu seinem letzten Werk Crime d’amour (FRA 2010) dem Film Noir die Treue. Patrick Dewaere beging 1982 im Alter von lediglich 35 Jahren Selbstmord. Marie Trintignant starb 2003 nach häuslicher Gewalt durch ihren damaligen Freund Bertrand Catant, Sänger der Rockband Noir Désir, mit nur 41 Jahren. Beide Todesfälle schockierten ihre Heimat Frankreich und auch das internationale Filmpublikum. Série noire bleibt ihrer aller Vermächtnis und lohnt auch für diejenigen, die so wie ich mit dem tendenziell exaltierten Schauspiel Patrick Dewaeres hin und wieder ihre Schwierigkeiten haben.
Via Studiocanal gibt es eine exquisit restaurierte Fassung auf einer französischen BD (2013) und auch DVD (2007) mit dem Werk ungekürzt im Originalformat, dazu den französischen Originalton und optional einzig französische (!) Untertitel, als Extras die 50-minütige Dokumentation Série noire: les noirceurs de l’áme von Frédéric Leconte und Jean-Philippe Certa (2013), ein 28-minütiges Interview mit Alain Corneau und Marie Trintignant, sowie ein 6-minütiger Auszug aus der TV-Sendung Ciné-regards aus dem Jahr 1979. Empfehlenswert!