Michel Simon, Janie Marèse, Georges Flamant, Roger Gaillard, Romain Bouquet
Paris, Frankreich: Auf der Betriebsfeier einer Strumpfabrik, bei der Maurice Legrand (Michel Simon) als Kassierer arbeitet, machen sich dessen Kollegen wie gewohnt über den phlegmatischen Sonderling lustig. Er steht im Ruf etwas überheblich zu sein und dabei völlig unter der Herrschaft seiner Ehefrau Adèle (Magdeleine Bérubet) zu leben, die ihm genau diktiert, was er zu tun und was er zu lassen hat. Als die Tafel im Restaurant aufgehoben wird und man ihn auffordert, noch mit ihnen durch die Kneipen zu ziehen, lehnt Maurice Lergrand wie immer ab und begibt sich auf den Heimweg. Zu später Stunde sind auch die Protistuierte Lucienne Pelletier (Janie Marèse) und ihr Zuhälter Dédé (Georges Flamant) auf dem Heimweg. Letzterer ist verschuldet und verlangt von der Hure, dass sie ihm Geld gebe, doch Lucienne hat keines, und der Betrunkene beginnt auf sie einzuprügeln, als Legrand eingreift und der torkelnde Dédé flugs zu Boden geht. Völlig ungeachtet seiner gewalttätigen Natur ist Lucienne sofort um Dédé besorgt und nimmt ihn vor Legrand in Schutz, der ein Taxi herbeiruft, um die schöne Frau nebst Anhang nach Hause zu kutschieren. Kurz darauf hält das Taxi vor einer Absteige, wo Dédé verschwindet, nicht ohne zuvor Lucienne zu instruieren, sich an Legrand heranzumachen und ihn an den Haken zu kriegen. Lucienne gibt vor, dass sie selbst ganz in der Nähe bei ihrer Familie wohne und Legrand bietet an, sie zu Fuß zu begleiten. Im Nu ist der 42-jährige von ihr und ihrer rührenden Art entzückt…
“Seen as a kind of proto-noir, La Chienne works against that genre’s fatalism“, schlussfolgert Kenneth George Godwin in einem Essay zum Film für die renommierte Criterion Collection, USA, die dieses Frühwerk von Meisterregisseur Jean Renoir im Jahr 2016 in einer bild- und tontechnisch herausragenden BD- bzw. DVD-Edition auf den Markt brachte. Nun, das ist allemal richtig, und dennoch lässt sich der Einfluss des dunklen Dramas auf den Film Noir nicht leugnen, das zum ersten in Maurice Legrand einen moralisch doppelbödigen Antihelden vorführt und zum zweiten mit Straße der Versuchung (USA 1945) von Fritz lang ein US-Remake verzeichnen kann, das mit Fug und Recht zum Kernbestand des Film Noirs der 40er Jahre gerechnet werden darf. La Chienne ist die Verfilmung eines gleichnamigen Romans (EA 1930) von Georges de la Fouchardiere, der zuvor mit Erfolg auch für die Theaterbühne adaptiert worden war. Und Michel Simon ist der Gigant eines Schauspielers, den es braucht, um den allemal komplexen Charakter dieser Vorlage auf der Kinoleinwand die entsprechende Strahlkraft zu verleihen. In der wörtlichen Übersetzung heißt la chienne auf Deutsch die Hündin, was allemal den unterwürfigen Chakter der von Janie Marèse dargestellten Lulu alias Lucienne beschreibt. Deren Zuhälter Dédé behandelt sie wie ein Stück Inventar, einen Gebrauchsgegenstand seines Lebens, doch ist ihm die Frau trotz seiner Gewaltanwendungen widerstandslos hörig. Nun bedeutet la chienne aber auch die Schlampe, was Lulus Verhältnis zu Maurice Legrand ins Zentrum rückt, dessen maßlos selbstgerechte Blindheit in Anbetracht seines Objekts der Begierde die wesentliche Quelle von Komik und Tragik des Dramas ist.
La Chienne ist ein dunkler Film. Zum ersten verschwimmen im Rollencharakter Maurice Legrand die Grenzen zwischen Recht und Unrecht, zwischen Gut und Böse, all die Parameter der Redlichkeit. Zum zweiten kennt er im Gegensatz zu Edward G. Robinson im Remake von Fritz Lang auch keine Reue für sein Tun, was den Kern der Handlung nochmals härtet. Nun bin ich persönlich nicht der größte Anhänger des Kinos von Jean Renoir, dessen Bestie Mensch (FRA 1938), eine Adaption des gleichnamigen Romans (EA 1874) von Emile Zola, ich allerdings großartig finde. Auch hier gab es mit Lebensgier (USA 1954) ein US-amerikanisches Remake durch den deutschen Exilanten Fritz Lang. In Julien Duviviers Panik (FRA 1945) nach dem Roman Die Verlobung des Monsieur Hire (EA 1933) von Georges Simenon trat Michel Simon in einer seinem Maurice Legrand sehr verwandten Rolle in Erscheinung. Die Femme fatale spielte in diesem Werk Viviane Romance, bis 1942 die Ehefrau von Georges Flamant, der in La Chienne sein Debüt gegeben hatte. Letzterer war am 14. August 1931 mit seiner Filmpartnerin aus La Chienne, mit Janie Marèse, an der französischen Rivera per Auto unterwegs, als er einen Unfall verursachte und die 23-jährige Anwärterin auf eine Schauspielkarriere auf der Stelle starb. Das französische Publikum verzieh Flamant das nie, und es beeinträchtigte seine Laufbahn, in der er es bis 1959 auf lediglich 27 Filmauftritte brachte. La Chienne hat zur Recht den Ruf eines Klassikers und ist stets sehenswert.
Es gibt eine jeweils fantastisch editierte BD und 2DVD (2016) der Criterion Collection, bild- und tontechnisch vom original Negativ auf höchstem Niveaiu restauriert, ungekürzt und im Originalformat und mit der original französischen Tonspur und optional englischen Untertiteln sowie mit einer Einführung zum Film durch Jean Renoir (FRA 1967), der Dokumentation Jean Renoir le patron: Michel Simon (FRA 1966), einer 90-minütigen Fernsehdokumentation moderiert von Jacques Rivette, das Ganze plus eines Interviews mit Renoir-Schüler Christopher Faulkner sowie inklusive eines ausfaltbaren Posters mit einem Essay von Ginette Vincendeau auf der Rückseite als Extras und noch mit Jean Renoirs erstem, 46-minütigen Tonfilm On Purge Bébé (FRA 1931) mit Michel Simon und Fernadel als Bonus. Besser geht es nicht!