Viviane Romance, Michel Simon, Paul Bernard, Max Dalban, Émile Drain
Paris: Auf einem sonnenüberfluteten Platz verscheucht ein Polzist einen schlafenden Bettler von der Parkbank, indessen die Lastwagen eines Jahrmarkts herbeirollen und ein Zeitungsverkäufer die Abendausgabe ausruft. Als der Linienbus an der Endstation Villejuif ankommt, wechselt der Schaffner das Schild für die Rückfahrt zur Gare de L’Est, und der in ein Buch versunkene Monsieur Hire (Michel Simon) schreckt hoch und eilt nach draußen. Vor der Fleischerei von Monsieur Capulade (Max Dalban) vertreibt der Bettler über dem Mülleimer, den er soeben durchwühlt, einen Straßenköter, und Hire schießt rasch ein Foto davon. Er bestellt bei Capoulade eine Rippe vom Lamm und moniert das Steak vom Vortag, das nicht blutig genug gewesen sei. Capoulade klagt über seine Frau Mathilde (Magdeleine Gidon), die sich von der Geburt ihres achten Kindes nicht erholen wolle. Den Jahrmarkt, bei dem sich seine Kunden mit Süßkram vollstopfen, sieht er als unliebsame Unterbrechung des Alltags am Platz. Hire bezahlt bei Mathilde das Fleisch und verabschiedet sich kommentarlos… Einige Arbeiter manövrieren mit ihrem Fahrgeschäft an einem Bretterzaun entlang, wo aus einem Haufen Gerümpel ein Paar Schuhe hervorschauen. Einer von ihnen macht den Chef darauf aufmerksam, und der erkennt sofort, dass in den Schuhen noch ein paar Füße stecken. So rennt er los, um sich bei den Ortskundigen im Café Au Petit Caporal nach der Polizeistation zu erkundigen und bald wissen alle von der Leiche der ermordeten Madame Noblet…
Julien Duviviers Verfilmung jenes nachtschwarzen Romans Die Verlobung des Monsieur Hire (EA 1933) aus der Feder Georges Simenons schließt nahtlos an seine Meisterwerke der Vorkriegsjahre an und geht zugleich darüber hinaus. Auch in seiner Zeit im US-amerikanischen Exil hatte Duvivier Kinogeschichte geshrieben, die bis heute jedoch kaum bekannt ist und wenig gewürdigt wird, weil der von ihm konzipierte Episodenfilm For All We Know in seiner ursprünglichen Form nie ins Kino kam. Eine der Episoden wurde in Reginald Le Borgs Destiny (USA 1944) verwurstet, ohne dass Duvivier überhaupt genannt wird. Die drei anderen erschienen, von einer dämlichen Rahmenhandlung zusammengehalten, als Das zweite Gesicht (USA 1944). Mit Panik war der vom US-amerikanischen Studiosystem gegängelte Julien Duvivier erstmals wieder im Besitz der künstlerischen Leitung eines Filmprojekts. Folglich ist es nicht bloß Michel Simons Meisterschaft als Schauspieler, der solchen Film Noir im wörtlichen Sinne so zeitlos und schmerzhaft stilsicher erscheinen lässt. Panik beweist in jeder Einstellung jene Magie der Selbstverständlichkeit im schöpferischen Prozess, so als müsse man hier um nichts ringen und schon gar nicht was versuchen, weil die Sache einfach klar ist, weshalb man nur die Kamera laufen lässt und der Rest passiert von allein. Es ist einer der wenigen Filme, – und Duviviers Pépé le Moko - Im Dunkel von Algier (FRA 1937) gehört für mich gleichsam dazu – deren Synthese von Präzision und Poesie beim Zuschauer zwar das Wissen um dessen Großartigkeit wachruft, in der Konsequenz des Dramas jedoch kaum zu ertragen ist. Denn obwohl er Georges Simenons Vorlage im Detail nicht treu bleibt, überträgt er dessen Quintessenz zur Menschennatur im Allgemeinen und im Besonderen ohne Wenn und Aber auf die Leinwand.
Auch über 70 Jahre nach Entstehung hat Julien Duviviers Panik von seiner Wirkungsmacht nichts verloren. Wenn der Chansonier der Straße in der Schlusssequenz jenes Lied über den Zauber der Liebe in einer von ihr gestalteten Zukunft anstimmt, jenen romantischen Gassenhauer, den der Zuschauer zuvor bereits vernahm, ist ein Hohngesang daraus geworden, der den Blick ins Bodenlose freigibt… Der Eindruck des Zweiten Weltkriegs und der Judenverfolgung, die Erfahrung der Manipulation durch Propaganda und hasserfüllte Fratzen eines aufgepeitschten Mobs, alle diese Aspekte der Zeitgeschichte finden sich in Duviviers Film und entschärfen zugleich nicht die tief wurzelnde Relevanz seiner Spielhandlung. Was immer man nach diesem Film anstellt, so leicht lässt sich dessen Abfolge der Ereignisse bis zum konsequent folgerichtigen Finale nicht abschütteln. Über 40 Jahre nach Panik verfilmte Patrice Leconte den Roman Simenons unter dessen Originaltitel Die Verlobung des Monsieur Hire (FRA 1989) ein zweites Mal, in den Hauptrollen Michel Blanc und Sandrine Bonnaire. Lecontes Adaption folgt mit Feinsinn und Akkuratesse der literarischen Vorlage und ist ihrerseits wunderbar. Indessen es dem Film Noir mitunter gelang, einen schäbigen Krimi auf ein weit höheres Niveau zu heben – Orson Welles‘ Im Zeichen des Bösen (USA 1958) ist das beste Beispiel – liegt bei diesen Verfilmungen von Simenons Belletristik jeweils der seltene Glücksfall eines ebenso meisterhaften Films vor. Nur vergleichen lassen sich die Werke meines Erachtens kaum, man sollte (und de facto muss man einfach) beide sehen.
Es gibt eine exzellente französische DVD-Edition (2008) von der LCJ Editions mit dem Film bild- und tontechnisch sehr gut restauriert im Originalformat und ungekürzt, dazu die original französische Tonspur ohne jegliche Untertitel, wie es für französische (und deutsche) BDs und DVDs leider typisch ist. In den USA gibt es via Criterion Collection eine enorm aufwendig restaurierte Fassung auf BD und auf DVD (2018) und zwar als gewohnt edle und mit zahlreichen Extras ausgestattete Ausgaben inklusive englischer Untertitel, die in Deutschland jedoch nicht erhältlich ist.
Englische Blu-ray disc
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Seit Januar 2019 gibt es übrigens auch eine englische Ausgabe der Criterion-Collection-BD mit englischen Untertiteln und mit vielen Extras.