Jon Bernthal, Christopher Abbott, Imogen Poots, Rosemarie DeWitt, Odessa Young
Im Bundesstat Alaska, USA: Von einem Tagesausflug in die nächstgrößere Stadt kehrt Tom Barrett (Joseph Lyle Taylor) in jene Kleinstadt zurück, darin er und seine Ehefrau Bernadette (Rosemarie DeWitt) beheimatet sind. Es ist schon spät am Abend und er trifft sich in Chums Pub mit seinen Freunden Mitchel Mccabe (Jonathan Tucker) und Lou Hopkis (Garry Chalk), dem Betreiber des Pubs. Das Lokal hat bereits geschlossen, doch die Freunde sind hier oft in wechselnder Besetzung zu einer Runde Poker verabredet. Tom ruft Bernadette an, die zu Bett gegangen ist und in einem Buch liest. Er teilt ihr mit, bei seinem Banktermin alle notwendigen Unterschriften erhalten zu haben. Plötzlich öffnet sich die Tür und ein Fremder kommt herein, der sich ungeachtet Lous Hinweis, dass man geschlossen habe, auf einem Platz nahe der Tür niederlässt. Mitchel geht an Lous Stelle zu ihm und fordert ihn zum Gehen auf, doch der Fremde reagiert darauf nicht und verlangt, ein Glas Wasser und das Frühufsteher-Menü serviert zu bekommen. Auch im zweiten Anlauf scheitert Mitchel, alsder Unbekannte ihn fragt, ob ihn Zuhause nicht eine Frau erwarte und ob sein Name nicht Mitchel sei? Dem Angesprochenen ist das unheimlich; er kennt den Man nicht. Als er ihn hinauswirft, kommt es beinahe zu einer Handgreiflichkeit, doch der Fremde beherrscht sich und stapft wütend davon. Mitchel und die Freunde sind verwirrt, doch plötzlich kehrt der Unbekannte zurück. Er zückt eine Pistole und beginnt einen nach dem anderen kaltblütig niederzustrecken…
Wenn dieser Film etwas nicht ist: ein Blockbuster und somit ein Kriminalfilm für ein Massenpublikum. Dafür ist er in seinen Charakterportraits zu abgründig, in seinem Handlungsverlauf zu unvorhersehbar, und er tischt bis zuletzt nicht jene Art von Heldentum auf, die fürs Kino aus Hollywood stets und immerdar ein kommerzielles Kalkül und damit ein Muss darstellt. Sweet Virginia ist ungeachtet seines Titels trocken und trist. Der Film erzählt die Geschichte einer Reihe von Menschen mit einer mehr oder minder dunklen Vergangenheit oder einer Gegenwart geprägt von Frustrationen. Die von Kinofreunden weltweit von einem Thriller lautstark eingeforderte Action hält sich in Grenzen. Dafür sind die Figuren derart lebendig und nuanciert konturiert, wie es auch bei einem Independentfilm dieser Richtung eine Seltenheit ist. Den englischen Autoren Benjamin und Paul China und ihrem kanadischen Regisseur Jamie M. Dagg gelingt, was ich zuletzt bei Jeremy Saulniers Blue Ruin (USA/FRA 2013) wahrgenommen habe, nämlich zu überraschen, weil sie sich ihrer Geschichte in der filmischen Umsetzung aus unerwarteten Perspektiven annähern. Killer Elwood (Christopher Abbott) “telefoniert“ in einer bemerkenswerten Szene mit seiner verstorbenen Mutter, ein gebrochener und hoch psychotischer junger Mann. Er gewinnt die Zuneigung des gleichfalls gebrochenen, dabei jedoch empathischen und gefestigten Sam Rossi (Jon Bernthal), ein körperlich versehrter, ehemaliger Rodeostar aus Virginia, der das Motel Sweet Virginia in der Einöde Alaskas von seinem verstorbenen Bruder überrnahm.
Warum gebe ich für Sweet Virginia, von Kamerafrau Jessica Lee Gagné in wunderbar stimmungsvolle Bilder gesetzt, dennoch nur drei Sterne anstelle von vier? Weil das Werk sich mit einer Reihe von Schwachpunkten deutlich selbst ins Abseits manövriert. Das Motiv für den Auftragsmord zu Beginn des Films bleibt zu vage. Und Lila Mccabe (Imogen Poots), ein im Kontext des Quartetts im Zentrum der Handlung wichtiger Rollencharakter, erweist sich im Kontrast zu den anderen als blass und diffus. Trotz der guten Leistungen aller Schauspieler stellt sich bezüglich dieser Person beim Zuschauer zunehmend Ratlosigkeit ein: „Was treibt sie an? Warum agiert sie derart naiv und planlos…?“ Hier passt vieles nicht zum Rest der Geschichte und damit ergeben sich Risse in der Glaubwürdigkeit der sonst so pedantisch auf “Authentizität“ getrimmten Figuren. Zu guter Letzt ist das Finale wider Erwarten ein Schritt in Richtung eines 08/15-Plots, wie er in einer TV-Serie, nicht aber in diesem auf seine Beziehungen hin geschriebenen Neo-Noir-Drama gut platziert ist. Solches Finale wirkt hastig und unausgegoren und lässt die Zuschauer beim Abspann tendenziell frustriert zurück. Schade! Bei Sweet Virginia wäre mehr drin gewesen, und womöglich ist bei Daggs nächstem Film auch mehr zu erwarten, denn an guten Zutaten mangelt es seinem allemal soliden Thriller nicht.
Sehr gute deutsche BD- und DVD-Editionen (2018) der EuroVideo Medien Gmbh, München, mit dem Film ungekürzt im Originalformat, bild- und tontechnisch einwandfrei, inklusive der original englischen Tonspur und einer (stimmlich völlig fehlbesetzten und verfälschenden) deutschen Synchronisation, in Anbetracht der oft genuschelten Dialoge des englischen Originals leider ohne Untertitel, dazu den Kinotrailer als einziges Extra.