Lee Tracy, Don Castle, Julie Bishop, Anabel Shaw, Regis Toomey
An der Küste zwischen Malibu und Los Angeles liegt ein Autowrack, das von der dahinter liegenden Klippe hinab auf den Strand gestürzt ist. Darin befinden sich zwei verletzte Männer, Hugh Fresney (Lee Tracy), Chefredakteur einer Tageszeitung in Los Angeles, und der aus San Francisco stammende Privatdetektiv Tim Slade (Don Castle). Es ist dunkel und die Flut kommt heran und wird sowohl das Auto als auch die beiden Männer verschlingen. Slade wurde zwar aus dem Wagen geschleudert, doch sein Bein ist unter dem Wrack eingeklemmt, er kann sich nicht bewegen. Auch Fresneys Zustand ist derart, dass an ein Fortkommen nicht zu denken ist. Fresney macht Slade klar, dass er die Aussicht auf jene Versicherungspolice von 10.000 US-Dollar, mit der Fresney ihn nach Los Angeles lockte, hätte ignorieren müssen, All die Schwierigkeiten der letzten Tage wären ihm erspart geblieben… Die Verunglückten kennen sich gut und lange, denn auch Slade, von Freunden meist “T.M.“ genannt, war bis vor einiger Zeit ein Reporter bei der Zeitung in Los Angeles. Doch eine Affäre mit Julie Vaughn (Julie Bishop), der Ehefrau von Clinton Vaughn (Douglas Walton) und Inhaber der Zeitung, hatte ihm die Kündigung eingebrockt. Als Tim Slade in Los Angeles eintraf, war Clinton Vaughn davon wenig begeistert. Hugh Fresney hatte seinen Freund angeheuert, um ihn vor dem Gangster Nick Dyke (Anthony Warde) zu beschützen, gegen den der Chefredakteur einen PR-Feldzug führte. Dyke wurde bei Clinton Vaughn vorstellig, um ihn und die Zeitung von Artikeln wider ihn abzubringen, doch Hugh Fresney ging dazwischen...
“What transpires only can be described as one of the nastiest double-crosses the wonderful world of noir has to offer”, beschreibt Eric Somer für Film Noir Board die Handlungsentwicklung im Anschluss an diese Exposition und liegt damit richtig. High Tide ist ein B-Film des Poverty-Row-Studios Monogram Pictures und jeder Connaisseur des Film Noirs weiß schon beim Lesen der Beteiligten vor und hinter der Kamera, dass er sich hier in den Niederungen der Filmproduktion im Hollywood der 40er Jahre aufhält. Der Österreicher Harry John Reinhardt war bereits 1922 in die USA ausgewandert und hatte sich dort als Drehbuchautor, Schauspieler und als Regisseur profiliert, eine lange Zeit (bis 1941) mit Filmproduktionen der 20th Century Fox für den Spanisch sprechenden Markt in Südamerika. Ab Mitte der 40er Jahre war der talentierte Mann leider ganz bei B-Filmen angelangt, die er mit seinem Sinn für Dramaturgie und Drehorte zu veredeln wusste. In High Tide atmet der Geist seiner Vorbilder. John Reinhardt und seine Crew eifern den A-Produktionen nach Vorlagen Raymond Chandlers und James M. Cains nach. Und so erinnert das überfrachtete, mit Rückblenden und Enthüllungen vollgestopfte Skript an Tote schlafen fest ( USA 1946), während der häufige Wechsel der Schauplätze entlang der Küste an Solange ein Herz schlägt (USA 1945) oder an Die blaue Dahlie (USA 1946) denken lässt.
Lee Tracy war ein Filmstar der 30er Jahre, der seine beste Zeit längst hinter sich hatte, und hier zum letzten Mal in einem Spielfilm auftrat, bevor er für weitere 20 Jahre beim Fernsehen unterkam. Don Castle (Todeszelle Nr. 5, USA 1948) galt als Schmalspur-Clark-Gable, der nie den Sprung in die A-Liga schaffte, dessen Filmkarriere 1957 endete und der 1966 im Alter von 48 Jahren starb. Beide zeigen sich jedoch munter engagiert in diesem rasanten Film Noir, der vor allem dank Schauplätzen in der Metropole von L.A. und entlang der kalifornischen Küste jenes Flair gewinnt, dass die billigen Studio-Kulissen vieler Poverty-Row-Kulissen sonst vermissen lassen. Mit einer Riege guter Nebendarsteller, allen voran Julie Bishop und Regis Toomey, und mit einem konstanten Spannungsbogen versehen, kann High Tide als ein Film-Noir-Drama aus der zweiten Reihe noch heute all jene Zuschauer, die ihn selbst mit einem Augenzwinkern zu auffassen, erfreuen. Anabel Shaw, hier als Clinton Vaughns Vorzimmerdame Dana Jones, hatte eine Karriere, die die 50er Jahre nicht überdauerte, doch trat sie in ihrer Zeit in vielen heute populären Film Noirs auf, darunter in Shock (USA 1946) und in Gefährliche Leidenschaft (USA 1950). So wie Don Castle starb auch Regisseur John Reinhardt früh, nämlich 1953 in Berlin im Alter von 52 Jahren, nachdem er mit Fernruf aus Chicago (USA 1951) einen heute allgemein als kleines Meisterwerk anerkannten, letzten Film Noir geschaffen hatte.
Eine von der Film Noir Foundation, San Francisco, in Kooperation mit dem UCLA Television & Film Archive und mit dem British Film Institute (BFI) exzellent restaurierte Fassung des Films, die anlässlich des Filmfestivals NOIR CITY im Januar 2018 auch auf der Kinoleinwand zu sehen war, erschien inzwischen via Flicker Alley (USA) auf einer exquisiten Blu-ray disc (2022) und zwar im Doppel mit John Reinhardts ebenfalls bemerkenswerter Low-Budget-Produktion The Guilty (USA 1947). Bild- und tontechnisch einwandfrei, ungekürzt und im Originalformat, mit der original englischen Tonspur, als Extras Audiokommentare der Filmhistoriker Alan K. Rode und Jake Hinkson, dazu jeweils eine Kurzdokumentation über Cornell Woolrich und über John Reinhardt, obendrein ein Booklet mit Szenenfotos und einem Essay Eddie Mullers, Gründer und Präsident der Film Noir Foundation.