Josh Wiggins, Sophie Nélisse, Bill Paxton, Joe Cobden, Vickie Papavs
Mit einer Schlange im Baumwolltuch geht der Teenager Jonas Ford (Josh Wiggins) in den von der Mittagssonne erleuchteten Wald. Dort lässt er das Tier frei und erschlägt es auch nicht, sondern sieht zu, wie es auf und davon kriecht. Fast zeitgleich kommt seines Weges ein zutraulicher Hund, den er in der Einöde der weit auseinander liegenden Höfe noch niemals sah. Er späht voraus und erkennt ein Mädchen (Sophie Nélisse) in seinem Alter, das gemächlich näherkommt und die Halterin des Hundes ist, den sie Blaise ruft. Jonas spricht sie an und erfährt, dass Casey eben erst in das nächst gelegene und seit einiger Zeit leerstehende Haus einzog. Sie sind beide nicht allzu gesprächig, aber Jonas fasst sich ein Herz und nennt der neugewonnenen Nachbarin seinen Namen, sie daraufhin ihm auch den ihren. Als Jonas auf den Hof der Fords zurückkehrt, weist ihm sein Vater Elbert (Joe Cobden) einige Arbeiten zu und verlangt, dass er jene Schlange, solle sie ihren Weg zu Haus und Stallungen zurückfinden, sofort tötet... Am nächsten Morgen räumt Casey im neuen Haus die Küchenutensilien aus den Umzugskartons in die Einbauschränke. Ihr Vater, Police Sergeant Wayne Caraway (Bill Paxton), ist in das Polizerevier einer nahegelegenen Ortschaft versetzt worden. Als sie seinen schweren Schritt auf der Treppe hört, stellt sie rasch den Aschenbecher auf den Tisch. Tatsächlich kommt Wayne Caraway mit einer Zigarette im Mundwinkel in die Küche, nimmt sich eine Tasse Kaffee und einen trockenen Toast: Aufstrich gibt es keinen…
“I think, God’s also a lie. It’s just something somone’s made up to keep people from being bad. Like Santa Claus for grown-ups.” Vor der beeindruckenden Landschaftskulisse North Ontarios in Kanada entfaltet sich der Neo Noir Mean Dreams als ein geruhsames, allerdings bald zupackendes und hartes Coming-of-Age-Drama um die in Liebe zueinander entflammten Teenager Casey und Jonas. Die Handlung selbst ist so klassisch, dass sie als ein Roman oder Theaterstück aus einem früheren Jahrhundert stammend vorstellbar wäre. Auch Bezüge zu Klassikern der Filmgeschichte fallen mir spontan einige ein, insofern das Liebende-auf-der Flucht-Thema vielfach im Film Noir und auch im Neo Noir variiert wurde: Nicholas Rays They Live By Night (USA 1948) und Terrence Malicks Badlands - Zerschossene Träume (USA 1973) drehen sich um junge Menschen, die der Hölle bestehender Verhältnisse, Elternhaus oder anderweitige Verwandtschaft, zu entrinnen suchen. Darin wurzelt in Mean Dreams ebenso die erwähnte Härte: in Caseys Vater Wayne, einem skrupellosen und ruchlosen Gangster in Polizeiuniform, der vor nichts zurückschreckt, um die Liebschaft der Jugendlichen zu beenden - tatsächlich vor nichts. Demgegenüber erweist sich Jonas‘ Elternhaus in einer hinlänglich bekannten Weise als trostlos und kaputt. Die Mutter (Vickie Papavs) ist eine in Depressionen versunkene, selbstbezogene Trinkerin, der Vater ein rechthaberischer und aus grobem Holz geschnitzter Kleingeist ohne Ambitionen. Von Liebe oder auch von Lebensfreude ist in keinem der Haushalte die geringste Spur zu entdecken. Solches bleibt allein Casey und Jonas und Blaise, dem Hund, vorbehalten. Als ihrer Knechtschaft durch Blutsbande und Wayne Caraways Psychoterror vermehrt physische Gewalt zu folgen droht, beschließen die Liebenden das Weite zu suchen. In einer Anwandlung, darin Kalkül und Rachedurst sich mischen, stiehlt zuvor Jonas dem kriminellen Wayne etwas von erheblichem Wert. Fortan ist ihnen der Gangster in Rage daher auf den Fersen.
Was macht die Qualitäten dieser Independent-Produktion aus, die für mich knapp unterhalb eines Meisterwerks rangiert und die ich vorbehaltlos empfehle? Neben der erwähnten, exquisit ausgewählten Drehorte und Steve Cosens‘ (Edwin Boyd – Citizen Gangster, CAN 2011) Kameraarbeit, ist es das Schauspiel, welches auf ganzer Linie überzeugt. Josh Wiggins und Sophie Nélisse sind die nahezu perfekte Besetzung für das Liebespaar im Zentrum der Handlung; sie stehen Farley Granger und Cathy O’Donnell in Rays They Live By Night (USA 1948) in nichts nach. Obendrein liefert uns der 60-jährige Bill Paxton eine seiner allerbesten Leistungen ab, einen Polizeibeamten und Vater, wie er abgründiger und verkommener kaum vorstellbar wäre. Womöglich hatten ihn die Autoren u.a. auch Max Cady (Robert Mitchum) in J. Lee Thompsons Ein Köder für die Bestie (USA 1962) nachempfunden, seinerseits eine der großen Rollen Mitchums. Vor allem lassen das Autorengespann Ryan Grassby und Kevin Coughlin sowie der Regisseur Nathan Morlando auch im letzten Drittel nicht nach, hält die sich zuspitzende Entwicklung der Geschehnisse ihre Zuschauer auf der Sesselkante. Die finale Einstellung erinnert erneut an Thompsons Post Noir, eine bittere und eindrückliche Zäsur im Leben der Teenager, denn ihre unbeschwerte Jugend ist dahin. So bleibt nur noch, den wunderbar subtilen Soundtrack des Elektronik-Trios Son Lux zu preisen, der sich bestens in die Bildsprache einfügt. Viele Rezensenten wiesen weltweit darauf hin, dass die wirkliche Tragik des Films sich jenseits der Produktion abspielte. Nach solcher Hauptrolle, die er engagiert und glaubwürdig mit Leben füllte, starb im Februar 2017 im Anschluss an eine Herzoperation Bill Paxton überraschend an einem Schlaganfall.
Dankenswerterweise gibt es von der kleinen kanadischen Produktion via Meteor Film GmbH, Köln, eine jeweils gut editierte deutsche BD- und DVD-Ausgabe (2017) mit dem Film ungekürzt im Originalformat, bild- und tontechnisch exzellent, dazu die original englische Tonspur und eine deutsche Synchronisation (das Werk lief im März 2017 sogar im deutschen Kino), zudem optional Untertitel auf Deutsch. Extras gibt es keine. Unbedingt anschauen!