Carla Del Poggio, Massimo Girotti, Jacques Sernas, Franca Maresa, Diana Borghese
© Verlag für Filmschriften Christian Unucka
Rom, Italien: Es ist dunkel an diesem Montagabend, 13. Oktober, und in einer verlassen liegenden Gasse steht vor einem Café ein Wagen mit einem Roten Kreuz sichtbar an der Windschutzscheibe. Es ist der Wagen des Vaters von Matricola (Michele Sakara), der hinterm Steuer sitzt, indessen Stefano (Jacques Sernas) auf dem Beifahrersitz und Berto (Dino Maronetto) und Gianni (Giorgio Mitrailler) auf der Rückbank die Straße im Blick haben. Die Neonreklame der “Bar“ erlischt und aus einem Gittertor tritt der Angestellte Giuseppe (Michele Riccardini) aufs Trottoir, der jedoch im gleichen Augenblick von den drei Männern, Matricola bleibt im Wagen sitzen, mit vorgehaltener Waffe gezwungen wird, in die Lagerräume des Etablissments zurückzukehren. Dort reißt ihm Stefano die Brille vom Gesicht, so dass er sie im Schein ihrer Taschenlampe nicht erkennen kann. Dann zwingt ihn Berto die Registrierkasse zu öffnen und entnimmt eiligst die darin verstauten Banknoten, indessen Gianni draußen Schmiere steht. In dem Augenblick ertönt ein Hupsignal und ein aus dem nebenan gelegenen Eingang zur Bar tretender Kollege Giuseppes wundert sich über das offene Gittertor und tritt ein. Er fragt Guiseppe, ob der Strom ausgefallen sei und schaltet das Licht ein. Zwei Schüsse aus der Pistole Stefanos strecken ihn nieder, und der tödlich Getroffene sinkt am stets offenen Tor zu Boden. Die jungen Gangster springen flink über ihn hinweg auf die Straße und ins Auto, indessen sie Matricola anweisen davonzufahren…
Dieser zweite Film des Schauspielers und Regisseurs Pietro Germi ist ebenso ein Werk des italienischen Neorealismus‘, wie er auch ein klassischer Film Noir ist. Er ist beides in gleicher Ausprägung wie Germis zwei Jahre zuvor gedrehte, erste Regiearbeit Il testimone (ITA 1946), die leider nie den Weg in das deutschsprachige Kino fand. Demgegenüber wurde Verlorene Jugend im Jahr 1950 auch in der jungen Bundesrepublik gezeigt, leider in einer extrem zensierten, um ganze 18 auf lediglich 62 Minuten gekürzten Fassung. Das ist in Anbetracht der feinen Charakterzeichnungen und der vielschichtigen Beziehung des jungen Beamten der Kriminalpolizei Marcello Mariani (Massimo Girotti) mit der Studentin Luisa Manfredi (Carla Del Poggio), die im Mittelpunkt der Geschichte steht, natürlich fatal. Letztere stammt aus dem Hause Professor Pietro Manfredis (Leo Garavaglia), und es ist ihr Bruder Stefano, der als skrupelloser Gangster und Mörder insgeheim ein Doppelleben führt, dem Marcello Mariani auf die Spur kommt. Auch Luisa hadert mit der kühlen und zynisch abweisenden Art, die der gerade einmal 20-jährige Stefano sich zulegte und die er selbst gegenüber Luisas Freundin Maria Rivano (Franca Maresa) zeigt, die in ihn, mit dem sie manche Erinnerung an ihre Kindheit teilt, offensichtlich verliebt ist. Der kaltblütige Mann mit dem knabenhaften Äußeren ist sogar Kopf jener Bande, die der Polizei seit längerem Kopfzerbrechen bereitet. Und mich sollte nicht wundern, wenn Pietro Germi sich mit Blick auf die Figur Stefano Manfredis von John Boultings Brighton Rock (UK 1947) inspirieren ließ, der im Jahr zuvor ebenso mit der Bugwelle eines schockierenden Enthüllungsfilms in die Kinos kam. Dessen zentraler Rollencharakter Pinkie Brown (Richard Attenborough) wirkt wie ein Seelenverwandter des von Jacques Serna gleichermaßen vorzüglich dargestellten, jugendlichen Gangsters.
Der Film Noir Verlorene Jugend nach einem Drehbuch Pietro Germis unter Beteiligung Mario Monicellis und Antonio Pietrangelis hat ein Anliegen, versteht sich als Kommentar zur sozialen und politischen Entwicklung im Italien der unmittelbaren Nachkriegsjahre und geht in seiner pointierten Darstellung der Verhältnisse noch darüber hinaus. Er ist stets beeindruckend und anrührend, und es erscheint daher bedauerlich, dass neben der Verehrung, die Luchino Visconti, Pier Paolo Pasolini, Michelangelo Antonioni und Federico Fellini im Kontext der italienischen Filmklassik erfahren, der Name Pietro Germis hierzulande kaum bekannt ist. Als Autor, Regisseur und als Schauspieler sollte er im Verlauf der 50er Jahre das hochwertige Thrillerkino Italiens weiterhin prägen, etwa durch seinen international längst wiederentdeckten Film Noir Jagd ohne Gnade / Bis zum bitteren Ende (ITA 1951), Co-Autor des Drehbuchs war ein gewisser Federico Fellini, oder durch seine Verkörperung des Commissario Ingravallo in dem tragischen Unter glatter Haut / Was geschah in der Via Merulana? (ITA 1959). Es ist höchste Zeit, dass solche Werke inklusive des sehenswerten Verlorene Jugend auch von hiesigen Cineasten und Freunden des Film Noirs goutiert und wertgeschätzt werden.
Obgleich in Italien, in Frankreich und teils in den USA das Frühwerk Pietro Germis zu Teilen sogar wiederholt auf DVD erschien, gibt es meines Wissens bis heute (2023) weltweit keine BD- oder DVD-Edition des Films. In diversen Online-Portalen steht eine technisch zumindest akzeptable Kopie eines Fernsehmitschnitts mit dem Originalton ohne Untertitel, ungekürzt und im korrekten Bildformat zur Verfügung.