Viggo Mortensen, Naomi Watts, Vincent Cassel, Armin Müller-Stahl, Sinéad Cusack
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London, England: Im strömenden Regen rennt Ekrem (Josef Altin), seinen Kopf mit einer Zeitung bedeckt, zum Friseursalon seines Onkels Azim (Mina E. Mina). Jener hat den Russen Soyka (Aleksandar Mikic), Hauptmann der Londoner Gruppe der russischen Bruderschaft Wory W Sakone, für einen Haarschnitt auf dem Stuhl sitzen, als der durchnässte Teenager hereinkommt. Ekrem lässt an Tür und Fenster in Windeseile die Jalousie herunter und dreht das im Türglas hängende Schild von “Open“ zu “Closed“, was der Zeitung lesende Soyka nicht bemerkt. Als Ekrem auf dessen hingestreckte Hand und die Ansprache Azims nicht reagiert, nimmt der russische Kriminelle den Jungen in Schutz und erklärt Azim, dass er ihn nicht so pisacken solle. Doch Azim beharrt zornig darauf, dass Ekrem das Rasiermesser nehmen solle und Sokya, wie sie vereinbart hatten, damit die Kehle durchschneidet, was Ekrem mit Hilfe seines Onkels auch bewerkstelligt… Die 14-jährige Tartjana (Sarah-Jeanne Labrosse) irrt barfuß und mit einem Mantel über der Schulter durch den Abendregen und betritt eine Apotheke, dessen Inhaber (Badi Uzzaman) soeben eine Kundin (Lalita Ahmed) bedient. Tatjana bittet um Hilfe, doch der Apotheker erklärt ihr, dass er ohne Rezept kein Methadon aushändigen dürfe. Plötzlich bricht das Mädchen zusammen, indessen sich auf den Fliesen eine Blutlache bildet. Auf einer Bahre wird Tatjana von der Hebamme Anna Chitrova (Naomi Watts) und einem Rettungssanitäter in rasender Eile in den Kreißsaal geschoben…
“My father died in the mines in my village, so he was already buried when he died.” Indessen die Filmhandlung das multikulturelle London vielfach wiederspiegelt, stammen auch die Schauspieler dieser internationalen Filmproduktion des Kanadiers David Cronenberg nach einem Skript des Briten Steven Knight aus vielen Nationen. Darsteller und Darstellerinnen aus England, Polen, Bosnien, Frankreich, Deutschland, Kanada, Irland, Tschechien, den USA und weiteren Ländern erwecken die Figuren des ebenso beeindruckenden wie dunklen und gewalttätigen Dramas zum Leben. Als die Hebamme Anna Chitrova in den Besitz des Tagebuchs einer heroinsüchtigen, 14-jährigen Zwangsprostituierten aus Russland gelangt, die bei der Geburt ihres Kindes im Krankenhaus stirbt, versucht sie anhand einer dem Tagebuch beigelegten Visitenkarte die Familie der Toten ausfindig zu machen. Dabei gerät sie allerdings an die Bruderschaft Wory W Sakone, die hinter der Fassade des vom jovialen Patriarchen Semyon (Armin Mueller-Stahl) geführten Edelrestaurants Trans-Siberian auf jener Visitenkarte ihren verzweigten kriminellen Geschäften nachgeht. Besagtes Tagebuch bringt Semyon und dessen Sohn Kirill (Vincent Cassel) in Gefahr. So versucht Semyon es schnell und lautlos in seinen Besitz zu bringen, bevor Anna Chitrova, deren Vater selbst aus Russland stammte, es durch Onkel Stepan (Jerzy Skolimowski) übersetzen lassen kann… Den Clou der glaubwürdig und ohne viel Schnickschnack angelegten Geschichte bildet allerdings die Interaktion Annas mit Semyons und Kirills Handlanger Nikolai Luschin (Viggo Mortensen), der weit mehr als nur jener Chauffeur ist, auf den er sich als seine einzige Rolle gern beruft: “I’m just a driver.“
“In typical film noir style, the seedy underworld of crime is viewed through the lens of hardened criminals and a helpless outsider that is dragged into the madness, (…) played brilliantly by Naomi Watts”, schreibt Ewan Blacklaw für inertia, und ich sehe es ebenso. Das Drehbuch, die Schauplätze, die Schauspieler – hinter und vor der Kamera stimmt hier fast alles, so dass der Zuschauer nach dem schockierenden Auftakt, wenn Sokya in Azim‘s Barber Shop das Blut aus der zerschnittenen Kehle sprudelt, gebannt am Ball bleibt. Der Film wurde in mehreren Kategorien für den Oscar und für reihenweise andere Filmpreise nominiert, erhielt jedoch einzig den People’s Choice Award auf dem Toronto International Film Festival. Womöglich war das Werk einfach zu brutal und düster, so dass eine renommierte Preisvergabe ins Fahrwasser von Kontroversen hätte führen können. Viggo Mortensen wächst in der zentralen Rolle über sich hinaus, aber auch Armin-Müller Stahl spielt seinen Fiesling mit einer bemerkenswerten Doppelbödigkeit. Einzig der von Vincent Cassel verkörperte Kirill scheint mir etwas zu einfach gestrickt und den komplexen Figuren, von denen er umringt ist, nicht das Wasser reichen zu können. Dennoch gehört Cronenbergs Neo Noir zu den empfehlenswerten und einmaligen Werken aus dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, die man sich nicht entgehen lassen sollte.
Es gibt eine exzellent editierte deutsche BD- und DVD-Ausgabe (2008) der Universum Film GmbH mit dem Werk ungekürzt im Originalformat, bild- und tontechnisch erstklassig, dazu den original englischen Ton und eine (allerdings nicht empfehlenswerte) deutsche Kinosynchronisation, optional englische Untertitel, obendrein eine B-Roll, die Featurettes “Secrets & Stories und “Marked for Life“ sowie Interviews mit einigen der Darsteller und Crew-Mitglieder als Extras.