Vivian Wu, Richard Burgi, Sun Honglei, You Ge, Zhong Zhen Tao
Shanghai, China: Die verwitwete Zhu Mei Li (Vivian Wu) geht heute Morgen in einem eng anliegenden roten Kleid und mit einer schwarzen Handtasche über der rechten Schulter eine belebte Straße entlang. Sie trägt eine Sonnenbrille und das Haar hochgesteckt und die Leute auf der Straße blicken ihr nach, wie sie in roten Pumps geradewegs in ein nobles Hochhaus stolziert, sich kurz im Spiegel betrachtet und dann einen Aufzug betritt. Sie fährt bis hinauf in den obersten 33. Stock des Gebäudes und erinnert sich daran, wie sie einst im Beisein ihres Sohnes Bebe (Lu Yao) von ihrem Eheman Lian Wie (Zhong Zhen Tao) dieses Kleid geschenkt bekam. Sie geht den dezent beleuchteten und in Edelholz gefassten Korridor entlang und klingelt an der Tür einer Suite. Der elegant in einen Anzug gekleidete Mr. Li (Roger Yuan) öffnet ihr die Tür und weist sie darauf hin, dass sie spät dran sei. Doch Zhu Mei Li lässt sich nicht einschüchtern, verweist auf den Verkehr, ihre hochhackigen Schuhe und ziert sich anfangs sogar einzutreten. Ihr Gastgeber, der sie über eine Escort-Agentur bestellte, bietet ihr Rotwein an, obwohl es sich um die Zeit des Frühstücks handelt – der Tisch ist für zwei Personen gedeckt. Als plötzlich ihr Mobiltelefon klingelt und Zhu Mei Li den Anruf entgegen nimmt, reagiert der Mann verärgert und will ihren Namen wissen. Als sie ihn nennt, ist er schockiert, und gesteht ihr mit zittriger Stimme, dass er auf ihren Mann hätte hören sollen. Mit zwei Schüssen aus einer Pistole streckt Zhu Mei Li ihren Gastgeber nieder…
“Oscar Luis Costo’s “Shanghai Red” combines a “Bride Wore Black”-type revenge drama (except here the widow favors red) with strong meller elements”, schreibt Ronnie Scheib für Variety und benennt geradewegs zwei zentrale Aspekte des klassischen Film Noirs. Eine Erzählerin aus dem Off, eine in verschachtelten Rückblenden enthüllte Geschichte um Liebe und Schuld, um Täuschung, Betrug und Mord in der Kombination mit der hoch ästhetischen Kameraarbeit Adam Kanes weisen von Anbeginn die Richtung. Für jeden mit dem klassischen Film Noir Hollywoods vertrauten Cineasten mutet es daher merkwürdig an, wenn in einer fast gebetsmühlenartigen Wiederholung auch Shanghai Red von Filmkritikern ein Mangel an Action und Tempo konstatiert wird, da die Elemente des Thrillers nicht mit denen eines charakterbezogenen Dramas zusammen fänden. Ja, für ein durch Blockbuster des Mainstream-Kinos mit Etiketten aus der Marketing-Schublade von Filmvertrieben getriggertes Publikum tut es das sicher nicht. Deren Kenntnis von Stilelementen und Ingredienzen der Drehbuchschule in der Filmhistorie weiter reichen, haben womöglich kein Problem damit, dass Shanghai Red sich von Beginn an nicht als Rachethriller mit weiblicher Mörderin à la Kill Bill Vol. 1 (USA/JPN 2003), Kill Bill Vol. 2 (USA/MEX/CHN 2004) oder Lady Vengeance (KOR 2005) versteht. Der Vergleich mit François Truffauts Die Braut trug schwarz (FRA/ITA 1968) nach einem Roman Cornell Woolrichs ist allerdings nicht aus der Luft gegriffen. Indessen wir jedoch über Julie Kohlers (Jeanne Moreau) ermordeten Ehemann David (Serge Rosseau) fast nichts erfahren, steht Zhu Mei Lis Beziehung zu ihrem Mann Lian Wei und ihre Rolle als Mutter des achtjährigen Bebe bald im Zentrum der Ermittlungen des Rechtsanwalts Cheng Xi Wang (Sun Honglei ), der sein Schicksal zu Teilen in dem ihren gespiegelt findet, je mehr sich die Gespräche zwischen ihm und der in Untersuchungshaft befindlichen Zhu Mei Li hinziehen und intensivieren.
“I never meant to hurt anyone. But my path was set for me the day my husband was murdered.” So eröffnet Zhu Mei Li uns Zuschauern den Bericht über ihren privaten Rachefeldzug. In Sidney Hayers‘ britischem Post Noir Schmutziges Geld (UK 1961) bleibt Jackie Parker (Billie Whitelaw) ebenso als Witwe eines Ehemanns zurück, der von einem Kollegen aus Habgier verraten und in den Tod getrieben ward, und sie beschließt Rache zu üben. In John Sturges‘ The Capture (USA 1950) warten auf die verwitwete Ellen Tevlin (Teresa Wright), Mutter eines Sohnes, einige Überraschungen, was jenen Mann betrifft, der ihren wehrlosen Ehegatten (Edwin Rand) einst erschoss… Demgemäß liegen in Shanghai Red die Dinge in mehr als einer Hinsicht nicht so, wie es zu Beginn der Erzählung von Zhu Mei Li für uns den Anschein hat. Dabei hält sich der Autor, Regisseur und Produzent Oscar Luis Costo mitunter für raffinierter, als ihm der aufmerksame Zuschauer, der den Braten frühzeitig riecht, zugestehen will. Aber vor allem das Verhältnis zwischen Cheng Xi Wang und Zhu Mei Li ringt dem Rollencharakter der verwitweten Rächerin und ihrer Geschichte Nuancen ab, die das Drama in seiner Ambiguität leuchten lassen. Alles in allem gehört dieser Independent-Film zu den seltenen Überraschungen im Kontext des Neo Noirs, der meine Erwartungen übertraf und den ich daher vorbehaltlos empfehlen kann.
Unterm Titel Shanghai Mystery gibt es via Indican Pictures and 2K4, Inc. jeweils eine US-amerikanische BD- und auch DVD-Ausgabe (2011, RC 1) mit dem Film ungekürzt und im Originalformat, bild- und tontechnisch einwandfrei, dazu die original in Mandarin und in Englisch gehaltene Tonspur, die bei den jeweils chinesisch gesprochenen Passagen englische Untertitel beinhaltet, aber keine optional zuschaltbaren UT bietet. Als Extras sind für vier Kinotrailer für den Film von je unterschiedlicher Lauflänge beinhaltet, mehr leider nicht.