Hu Ge, Gwei Lun-Mei, Liao Fan, Wan Qian, Dao Qi
Es ist Nacht und regnet in Strömen auf die von spärlichem Neonlicht erhellte Front des Südbahnhofs in Wuhan in der zentralchinesischen Provinz Hubei. Unrasiert und mit einer blutigen Wunde auf der linken Wange, seine Habseligkeiten in einer Umhängetasche, scheint der Kleinkrimenelle Zhou Zenong (Hu Ge), indessen er eine Kundin an einem Imbiss beobachtet, auf jemanden zu warten. Eine Frau namens Liu Aiai (Gwei Lun-Mei) mit Kurzhaarschnitt und in rotem Pullover unter einem transparenten Regenschirm daher schlendernd fragt ihn nach Feuer für ihre Zigarette. Sie kennen sich nicht, und fast hat sie sich wieder abgewendet, als sie ihn fragt, ob er Zhou Zenong sei. Der Angesprochene ist überrascht und misstrauisch, doch sie eröffnet ihm, dass Hua Hua (Dao Qi) sie geschickt habe und dass seine Ehefrau Yang Shujun (Wan Qian) leider nicht kommen könne. Sie böte sich daher an, letztere zu ersetzen oder sie werde auf der Stelle wieder verschwinden. Warum er ihr trauen solle, möchte er wissen, und sie entgegnet ihm, dass sie sich als eine Polizeibeamtin kaum derart viel Mühe geben müsse. Letzteres scheint Zhou Zenong zu verstehen, und auf seine Nachfrage informiert ihn Liu Aiai auch darüber, dass Hua Hua nicht diekt mit ihm in Kontakt treten wolle, weil er um seinen Ruf fürchte. Als nun sie Zweifel an seiner Person äußert, erzählt ihr der Anführer einer Diebesbande davon, wie er vor zwei Tagen im Taxi auf dem Weg zu einem nächtlichen Treffen im Hotel Xingqingdu schon vollends erschöpft gewesen sei…
“Der chinesische Regisseur Diao Yinan, einer der interessantesten seiner Generation, hat alle wesentlichen Zutaten des Film Noir jetzt in seinem neuen, seinem vierten Film als Regisseur zusammengefügt“, schrieb Rüdiger Suchsland im August 2020 aus Anlass der bundesdeutschen Kinopremiere für artechock. Natürlich weiß der Rezensent, dass genau Diao Yinan 6 Jahre zuvor für seinen Neo Noir Feuerwerk am helllichten Tage (CHN 2014) auf den Filmfestspielen in Berlin den Goldenen Bären als Bester Film erhielt und Hauptdarsteller Liao Fan, der auch im Nachfolger einen Polizeibeamten mimt, die Auszeichnung als Bester Hauptdarsteller entgegennahm. Nach meiner Einschätzung wird Der See der wilden Gänse vor allem deshalb in den Genuss einer Aufführung im hiesigen Kino und zur Veröffentlichung einer deutschen DVD-Ausgabe (2020) gekommen sein. Letzteres ist zu begrüßen, denn genau wie Rüdiger Suchsland bin ich der Meinung, dass dieser zweite Neo Noir Diao Yinans seinen allemal sehr guten Vorläufer nochmals übertrifft und ohne Wenn und Aber als Meisterwerk des chinesischen, wenn nicht gar des ostasiatischen Kinos im 21. Jahrhundert gelten darf. Ein Krimineller, der in einer für ihn lebensbedrohlichen Lage versehentlich einen Polizeibeamten erschießt, ist vor rivalisierenden Mordbuben und vor den Behörden auf der Flucht und wird (fast) zum einsamsten Menschen des Universums. Carol Reeds Ausgestoßen (UK 1947), Robert Siodmaks Gewagtes Alibi (USA 1949), John Berrys Steckbrief 7-73 (USA 1951) und sogar Andrzej Wajdas Asche und Diamant (POL 1958) kamen mir in den Sinn, und es ist nicht auszuschließen, dass Regisseur Diao Yinan diese Werke kennt und sich von ihnen inspirieren ließ. Wie er eine ähnlich gelagerte Filmhandlung ins China des 21. Jahrhunderts transferiert und mit den Mitteln des zeitgenössischen Films dramaturgisch aufbereitet, darin liegt die Meisterschaft seiner grandiosen Hommage an den klassischen Film Noir im Besonderen und die Kinogeschichte im Ganzen.
Neben Liao Fan hatte auch Gwei Lun-Mei in Feuerwerk am helllichten Tage zu glänzen gewusst und zwar in der weiblichen Hauptrolle, doch treffen sie erst am Ende von Der See der wilden Gänse wieder aufeinander. Zuvor hilft die Prostituierte vom Seeufer, wo Tourismus und Unterwelt sich vermischen, dem flüchtigen Zhou Zenong, seinen Jägern aus der Unterwelt und von der Kriminalpolizei zu entwischen. Die beiden schlagen sich im Zickzackkurs durch die verregneten Nächte der Millionenmetropole Wuhan oder fahren in einem Boot auf den im Nebel liegenden See hinaus, wo sie ihre Liebe füreinander entdecken... Oder ist es gar nicht so? Hilft Hua Hua tatsächlich Yang Shujun, die als alleinerziehende Mutter für sich und ihren kleinen Sohn sorgen muss, indessen sie Zhou Zenong seit 5 Jahren überhaupt nicht sah? Ist Liu Aiai überhaupt so vertrauenswürdig, wie sie sich den Anschein gibt? Nachdem der flüchtige Mörder mit ihr vereinbarte, dass sie ihn der Polizei ausliefern und die 300.000 Yuan Belohnung für Yang Shujun und sein Kind kassieren wird, misstraut jeder jedem. Zumal auch die Verfolger der rivalisierenden Diebesbande von der Belohnung wissen und Zhou Zenong gern tot wüssten… Ein erstklassiges Skript, fantastische Schauspieler und Bilder wie aus einem Traum, die dank Kameramann Jingsong Dong (Night Train, CHN/FRA 2007) noch jenseits der Filmsprache in Wan Kar Wais Hongkong-Thrillern der 90er Jahre die Eigenarten chinesischen Kinoerlebens auf eine neue Stufe heben. Unbedingt ansehen!
Via eksytent filmverleih gibt es eine erstklassige deutsche DVD-Edition (2020) - nein, keine BD - mit dem Werk ungekürzt und im Originalformat, inklusive der deutschen Kinosynchronisation und der original chinesischen Tonspur, dazu optional deutsche Untertitel und den Kintrailer als Extra.