Ingvar Eggert Sigurðsson, Ágústa Eva Erlendsdóttir, Björn Hlynur Haraldsson, Ólafía Hrönn Jónsdóttir, Atli Rafn Sigurðsson
Reykjavík, Island: Die kleine Kola (Rafnhildur Rósa Atladóttir) liegt im Krankenhaus, ihre Eltern Örn (Atli Rafn Sigurðsson) und Gunnur (Elma Lísa Gunnarsdóttir) halten abwechselnd Wache. Kola leidet an einem genetisch bedingten Hirntumor und hat keine Chance zu überleben. Bei ihrer Beerdigung sind Freunde und Verwandte anwesend, Örn ist außer sich vor Trauer… Im Stadtteil Nordermoor ist ein Junge in eine im Tiefparterre gelegene Wohnung eingedrungen, die Verglasung der Hintertür ist eingeschlagen. Auf der Suche nach ihm kommt ein zweiter Junge hinzu und sieht ihn vor der Leiche eines gewaltsam erschlagenen älteren Mannes, des LKW-Fahrers Holberg (Þorsteinn Gunnarsson). Die Polizei ist schnell vor Ort - Kommissar Erlendur Sveinsson (Ingvar Eggert Sigurðsson) und Sigurður Óli (Björn Hlynur Haraldsson) nehmen die Ermittlungen auf. Ihnen fällt auf, dass der Tote, der laut Gerichtsmediziner zwei Tage vor Ort gelegen hat, ungewöhnlich intensiv riecht. Die Wohnung ist verwahrlost, Behausung eines misanthropischen Einzelgängers, welcher der Polizei aus der Vergangenheit bekannt ist, insofern er in den 70er Jahren in einen Prozess wegen Vergewaltigung einer jungen Frau verwickelt war. Durch Zufall findet Erlendur Sveinsson in einem unterhalb einer Schreibtischschublade festgeklebten Umschlag eine alte Fotografie. Sie zeigt das Grab der vierjährigen Aude, der 1974 verstorbenen Tochter jener von Holberg seinerzeit angeblich vergewaltigten Postituierten, die später Selbsmord beging…
Dieser dritte Fall des Ermittlers Erlendur Sveinsson von der Kriminalpolizei in Reykjavík stammt aus der Feder seines isländischen Autors Arnaldur Indriðason und erschien als Roman im Jahr 2000, in Deutschland 2003 unterm Titel Nordermoor. Baltasar Kormákurs Verfilmung, die in Island 2006 als Mýrin und international als Jar City ins Kino kam, brachte es in Deutschland als Der Tote aus Nordermoor lediglich zu einer DVD-Veröffentlichung (2007) via SPV, die durch den Hinweis auf „Das Erste“ (= ARD) auf dem Frontcover den Eindruck erweckt, es handele sich um einen Fernsehfilm. Dabei ist die Kameraarbeit Bergsteinn Björgúlfssons ein besonderes Plus dieses Werks. Genau sie empfiehlt Jar City fast zwingend zum Genuss auf der Leinwand und verlockt seine Zuschauer mit faszinierenden Stadt- und Landschaftsimpressionen sofort nach Island zu reisen. Die Geschichte des Romans und des Films ist in den Grundzügen alles andere als sensationell, eine sorgfältig und teils knifflig ausgearbeitete Kriminalhandlung, nicht weniger und nicht mehr. Derlei ließe sich tatsächlich als Episode in einer hochwertigen TV-Serie unterbringen. Somit steht und fällt alles mit dem Fokus auf und mit der Kontur der einzelnen Rollencharaktere. Diesbezüglich lässt Baltasar Kormákur, der mit seinem 101 Reykjavík (ISL 2000) auf Anhieb international bekannt wurde, als Autor des Drehbuchs und als Regisseur allerdings nichts anbrennen. Solch eine Riege von grantigen, eigenbrödlerischen, amoralischen, chaotischen und teils doch verletztlichen und romantischen Figuren wäre ansonsten nur im österreichischen Film oder in einem Werk Aki Kaurismäkis vorstellbar. Dank ihrer und durch eine stringente Dramaturgie und den dunklen Grundton der Erzählung wird Jar City zu einem Paradebeispiel dessen, was unterm Sammelbegriff “Nordic Noir“ längst zu einer eigenen Kategorie zeitgenössischen Neo-Noir-Kinos wurde - geografisch zwar definiert, doch über Landesgrenzen hinweg.
Ein rabenschwarzes Geheimnis in der Vergangenheit, eine narrative Struktur mit Rückblenden und dazu ein Kommissar, der für seine ex-Frau ein Verlierer und für seine drogenabhängige, schwangere und verschuldete Tochter ein Geldgeber ist, all das schlingert unter dem stets grau verhangenen Himmel über Island auf seine bittere Schlusssequenz zu. Die Auflösung des Falls ist keine Überraschung und provoziert keinen nachhaltigen Schauer des Schreckens. Hier zeigte sich der Nordic Noir mit Filmen wie Todesschlaf (NOR 1997) oder mit TV-Serien à la Kommissarin Lund (DNK/NOR/SWE/GER 2007) schon von anderer Seite. Andererseits punktet Jar City mit dem verzweifelten Kampf Erlendur Sveinssons gegen die innere Erosion der Desillusionierung und den Verlust der eigenen Tochter als letztem Ankerplatz in einer ansonsten trostlos ungewissen Zukunft. Genau das ist in dem ambitionierten Thriller Kormakurs, der außerdem einiges an schwarzem Humor bietet, deutlich jenseits von Schema F angesiedelt und bietet dem Cineasten jenes gewisse Extra, das letztlich die Qualität eines solchen Werks ausmachen muss. Hinzu kommt ein großteils wunderbares Schauspiel, allen voran durch Ingvar Eggert Sigurðsson als Kommissar Erlendur Sveinsson. Er und Baltasar Kormákur traten in Óskar Jónassons Neo Noir Reykjavík-Rotterdam (ISL/DNK/GER 2008) schließlich auch gemeinsan vor die Kamera. Mit Ágústa Eva Erlendsdóttir und Björn Hlynur Haraldsson spielte Ingvar Eggert Sigurðsson jeweils in Olaf de Fleurs City State (ISL 2011) und in dessen Sequel Brave Men’s Blood (ISL/FRA 2014).
Die deutsche DVD-Edition (2007) von SPV bingt den Film ungekürzt im Originalformat, bild- und tontechnisch einwandfrei, und neben drei technisch unterschiedlichen deutschen Tonspuren steht die original isländische (Dolby Digital 2.0) zur Verfügung, aber leider keine deutschen Untertitel, was ein Manko ist, da einem somit der Originalton nur bei perfektem Beherrschen von Isländisch etwas bringt. Internationale Editionen bringen alle den Originalton mit englischen Untertiteln und sind der deutschen DVD-Ausgabe deshalb vorzuziehen.