Alpha Omer Cissé, Sylvaine Faligant, Yotam Ishay, Roland Stelter, Philipp Droste
An einer Raststätte im Nordwesten Berlins fährt in der Dunkelheit eines Herbstabends ein Wagen auf die A 111 in Richtung der Stadt. Kurz darauf betreten der Afrikaner Omer (Alpha Omer Cissé) und die aus Marseille in Frankreich stammende Carine (Sylvaine Faligant) eine Eckkneipe und setzen sich auf zwei Barhocker. Als Omer die Toilette aufsucht, wird der ebenfalls anwesende Dieter (Thorsten Merten) auf die hübsche Frau aufmerksam. Carine schenkt ihm ein freundliches Lächeln und der Spätfünfziger greift sich sein Bier und gesellt sich zu ihr. Sie plaudern ein wenig, doch als Omer zurückkehrt, ist jener davon nicht sonderlich angetan und fordert Dieter auf, den zuvor von ihm besetzten Hocker zu räumen. Der Ton wird rau, und Carine schaltet sich ein, um den Streit zu schlichten. Als die Herren beschließen, ihre Kräfte bei einer Partie Pool-Billard zu messen, verlangt Omer von Carine, dass sie ihm Geld gibt, damit er es beim Billard als Wetteinsatz nutzen könne. Carine ist sichtlich genervt, aber als Omer darauf insistiert, gibt sie ihm, was er verlangt… Etwas später steigen Omer und Carine lächelnd in ihren Wagen und fahren in die Innenstadt. Sie betreten eine Altbauwohnung und lassen sich am Küchentisch nieder. Carine zählt ihr Geld und teilt Omer mit, dass sie inzwischen 10.000 Euro erwirtschaftet hätten. Am liebsten würde sie es dabei bewenden lassen und in Frankreich eine Strandbar eröffnen. Omer jedoch will deutlich mehr und beabsichtigt die Summe zu nutzen, um gegen den “Sultan“ (Yotam Ishay) zu spielen…
Der mit kleinem Budget in Schwarzweiß gedrehte Neo Noir Night To Be Gone spielt durchweg in Berlin und war für mich die Überraschung auf dem Noir Film Festival in Český Šternberk, Tschechien, des Jahres 2023. Darin stellt der aus New York, USA, stammende Autor und Regisseur Loren David Marsh, das gewiefte Betrügerpärchen Omer und Carine in den Mittelpunkt einer Filmhandlung, die ihre Inspiration ebenso Robert Rossens Haie der Großstadt (USA 1961) verdankt wie auch mehrerer Film Noirs der 40er und 50er Jahre. Omer ist ein brillanter Billardspieler, doch mithilfe Carines gibt er sich als impulsiver und unbeholfener Möchtegern aus, was die von ihnen ins Visier genommenen Opfer veranlasst, die beiden ausnehmen zu wollen. Haben letztere erst einmal angebissen, zeigt Omer beim Billard sein Talent und dreht den Spieß kurzerhand um. Die Masche funktioniert bestens, bis sie an den ebenfalls professionellen “Sultan“ geraten, der sich die Spannungen zwischen Omer und Carine seinerseits zunutze macht… In der verregneten nächtlichen Metropole Berlin, in deren Eckpinten, Hotels und spärlich möblierten Apartments gedreht, steht so ziemlich jede der Figuren mit zumindest einem Bein außerhalb von Recht und Ordnung. Niemand spielt mit offenen Karten, denn genau das können sich die Glücksritter, ob arm oder reich, nicht leisten. Ernsthafte Gefahr droht den zentralen Protagonisten jedoch am ehesten durch sich selbst. Wie schon im klassischen Film Noir ist es letztlich die Liebe, welche zur Achillesferse wird, und dem Paar droht die für ihren Erfolg und ihre Pläne nötige Kühle und Klugheit abhanden zu kommen. Worin besteht nun die Überraschung? Das ist schnell erklärt. Loren Marsh präsentiert klassisches Erzählkino und vermeidet bewusst und mit Geschick, den Film in einen Retro-Look zu kleiden. Zugleich geht er aber nicht seinen Schauplätzen und Drehorten auf den Leim und nutzt die Großstadt Berlin als Kulisse für eine lebenssatte Geschichte, die sich nicht mit Hipstertum und Zeitgeist selbst blockiert. Von Anbeginn spannend und couragiert geht Night To Be Gone bis zum Schluss nicht die Puste aus und wartet mit einigen Wendungen auf, die kaum vorhersehbar sind. Das wiederum ist auf dem von Blockbustern und CGO planierten Terrain des Neo Noirs allemal wert, eine Überraschung genannt zu werden.
Das internationale Ensemble vor und hinter der Kamera überzeugt auf ganzer Linie. Sylvaine Faligant stammt wirklich aus Frankreich; Alpha Omer Cissé kommt aus Mali. Der seit 25 Jahren im Filmgeschäft aktive Loren David Marsh ist US-Amerikaner, und wie Yotam Ishay stammt auch Kameramann Vlad Margulis aus Israel. Der Rest des Ensembles ist wiederum aus Deutschland. Schauspieler Thorsten Merten ist vielen aus den bis dato 4 Staffeln Babylon Berlin (GER 2017-2022) ein Begriff, und Kameramann Florian Wurzer war u.a. an Sebastian Schippers erfolgreichem Neo Noir Victoria (GER 2015) beteiligt, der 2020 auch auf dem Filmfestival NOIR CITY in San Francisco aufgeführt wurde. Nach Premiere in Paris wurde der US-Autor Foster Hirsch (Film Noir: The Dark Side Of The Screen, EA 1983) auf Night To Be Gone aufmerksam. Aufgrund seiner Initiative wird das Werk im November 2023 auch in New York einem Publikum vorgestellt und zwar im dortigen Cinema Arts Centre. Hoffentlich wird man hierzulande bald ebenso auf solche Perle des Independent-Films aufmerksam und räumt der Produktion auf Filmfestivals, in Programmkinos oder in Streaming-Portalen den ihr gebührenden Platz ein.
Bis heute (2023) gibt es noch keine BD oder DVD des Films, der aktuell v.a. auf internationalen Filmfestivals aufgeführt wird. Früher oder später ist mit einer Veröffentlichung in einem Streaming-Portal zu rechnen.