Ruth Chatterton, Anton Walbrook, Rene Ray, Beatrix Lehmann, Mary Clare
Das Staatsgefängnis La Santé im 14. Arrondissement der Hauptstadt Paris: Der zum Tode verurteilte Gangster Pierre Verdier (George Merritt) redet in heftiger Erregung mit dem Priester (Stanley Lathbury), der gekommen ist, ihm am Abend vor seinem Tod den Segen zu geben. Aber Verdier wünscht, den in Montmartre ansässigen Dieb mit Spitznamen “The Rat“ (Anton Walbrook) zu sprechen. Dabei gehe es nicht um ihn, sondern um jemanden, der weit wichtiger sei. Als der Priester bei der Kriminalpolizei vorspricht, erklärt ihm Inspector Caillard (Gordon McLeod), dass dessen bürgerlicher Name Jean Boucheron sei und sein größtes Talent darin bestehe, der Polizei jedes Mal zu entwischen. Tatsächlich klettert Boucheron auch heute Nacht eine Fassade empor und gelangt durch ein Fenster ins Schafzimmer einer schlafenden, jungen Frau (Geraldine Hislop) von einigem Wohlstand. Mit einer Taschenlampe hat er die Schmuckschatulle auf dem Toilettentisch schnell entdeckt, zugleich ist die Dame erwacht und greift womöglich nach einer Waffe. Boucheron erklärt ihr, dass ein Ruf nach Hilfe ihr nicht gut bekäme und weist sie an zu flüstern, was sie auch bereitwillig tut... Im Café de la Bohème ist zu später Stunde noch viel Betrieb und auch Jean Boucheron tritt durch eine Seitentür herein. Im Nu sieht er sich von einer Schar Animierdamen umringt, denen er eine Schachtel Pralinen zum Geschenk macht. Aber auch Inspector Caillard hat sich noch nicht zur Ruhe begeben und tritt überraschend in das Lokal…
Der Film Noir aus England nahm sich seit jeher die Freiheit, nicht in seinem Heimatland und nicht in einer Kronkolonie angesiedelt zu sein. Carol Reeds Der dritte Mann (UK 1949) spielt bekanntlich in Wien, Ralph Thomas‘ Venetian Bird / The Assassin (UK 1952) wurde in Venedig gedreht und Antony Darnboroughs Paris um Mitternacht (UK 1950) handelt wie auch Die Ratte von Ereignissen in der Hauptstadt Frankreichs. Die literarische Vorlage zu letzterem war das Theaterstück The Rat (EA 1924) von Schauspielerin Constance Collier und ihrem Kollegen Ivor Novello, welches unterm Titel Die Ratte von Paris (UK 1926) bereits als Stummfilm in die Kinos gekommen war. Insofern ist Jack Raymonds Adaption quasi auch ein Remake. Persönlich stelle ich mir die Frage, ob Raymond nicht von einem der wenigen französischen Filme, die nicht in Frankreich angesiedelt waren, beeinflusst worden war, nämlich von Julien Duviviers in Algier spielendem Pépé le Moko - Im Dunkel von Algier (FRA 1937), der wiederum auf dem gleichnamigen Roman von Detective Ashelbé alias Henri La Barthe beruht. Letzterer hatte seine Premiere in Frankreich im Januar 1937, indessen Die Ratte im November 1937 in die englischen Kinos kam. In beiden Werken spielt eine reiche Schönheit eine wichtige Rolle, die an einem stadtbekannten Verbrecher Gefallen findet, den die Polizei partout nicht hinter Schloss und Riegel zu bringen vermag. Sie wird sowohl für Pépé le Moko (Jean Gabin) als auch für Jean Boucheron zur Femme fatale und bringt wider ihren Willen oder zumindest ohne ihr Wissen ihren (potentiellen) Liebhaber damit in Gefahr. Indessen Mireille Bain als Gaby in Julien Duviviers Pépé le Moko - Im Dunkel von Algier voll überzeugt, ist Ruth Chatterton als Zelia de Chaumont in Jack Raymonds Die Ratte (für mich) allerdings ein zentrales Problem. Die US-amerikanische Schauspielerin beweist in ihrem vorletzten Film und somit kurz vor Ende ihrer 10-jährigen Filmkarriere als Diva und Femme fatale bestenfalls ihr limitiertes Repertoire an Ausdrucksfähigkeit und spielt die Rolle in einer Art, als sei die Ära des Stummfilms noch gar nicht vorüber.
Deutlich besser agieren sowohl Rene Ray als auch Anton Walbrook, ursprünglich als Adolf Anton Wilhelm Wohlbrück in Wien geboren, die zusammen eine gute Chemie entwickeln. Diese beiden und auch die Leistungen einer Reihe von Nebendarstellern – vor allem Beatrix Lehmann und Mary Clare - retten den flott und pointiert voranschreitenden Film, der zudem auch durch die exquisite Kameraarbeit Freddie Youngs (Doktor Schiwago, ITA/UK/USA 1965) aufgewertet wird. Dennoch drängte sich mir als Zuschauer beim Abspann der Eindruck auf, dass man diese Geschichte weit besser hätte auf die Leinwand bannen können. Julien Duviviers Pre Noir mit Jean Gabin und Mireille Balin spielt definitiv in einer anderen Liga. Ihm kann Jack Raymonds romantisches Kriminaldrama mit dem zahmen Finale und seinem versöhnlichen Abschluss nicht ansatzweise das Wasser reichen. Kurios ist zu guter Letzt, dass der Film bei seiner bundesdeutschen Premiere im Jahr 1949 den Namen seines Hauptdarstellers auf dem Filmplakat als Adolf Wohlbrück angab.
Es gibt eine empfehlenswerte DVD-Ausgabe (2015) der britischen Network Ltd. in deren Reihe The British Film als Lizenz der StudioCanal Ltd.mit dem Film ungekürzt im Originalformat, für ein Werk solchen Alters bild- und tontechnisch exzellent restauriert und mit dem englischen Originalton ohne Untertitel, das Ganze leider auch ohne jegliche Extras.