Wen Jiang, Gang Deng, Nina Huang Fan, Liu Xiaoning, Jing Ning
In einer chinesischen Kleinstadt führt der Polizeibeamte Ma Shan (Wen Jiang) ein geruhsames Eheleben mit der Lehrerin Han Xiaoyun (Wu Yujuan); die beiden sind Eltern des achtjährigen Dong (Wang Xiaofan). Am Morgen nach der Heirat seiner Schwester Ma Juan (Nina Huang Fan) mit Liang Qingshan (Li Haibin) erwacht Ma Shan schwer verkatert und stellt beim Ankleiden fest, dass seine Dienstpistole verschwunden ist. Zuerst hat er seinen Sohn in Verdacht, doch das erweist sich als unbegründet. Ma Shan ist außer sich und eilt aufs Präsidium, wo er die Waffe in seinem Spind zu finden hofft, aber auch dort ist sie nicht. Er geht ins Büro seines Vorgesetzten Sergeant Huang (Gang Deng) und gesteht mit zitternder Stimme den Verlust der Pistole, für ihn und für das Präsidium eine Schmach. Doch Huang ist heute Morgen noch nicht vor Ort und Ma Shan hält seine Beichte vor dessen leerem Bürostuhl… Als er das Präsidium verlässt, hört er den Ruf seines Sohnes Dong, der ihn von der Mauer der angrenzenden Schule herab fragt, ob er seine Sachen womöglich auf der Hochzeitsfeier von Dongs Tante vergessen habe, und erst jetzt erinnert sich Ma Shan überhaupt daran, dass er gestern Abend dort gewesen und zuletzt völlig betrunken war. Er befragt die frisch Verheirateten, doch sie haben ebensowenig wie er eine Erinnerung an die Gäste des letzten Abends. Als er unverrichteter Dinge per Fahrrad aufbrechen will, rennt ihm Ma Juan hinterher und gibt Ma Shan eine von dessen Freund Chen Jun (Liu Xiaoning) angefertigte Gästeliste…
“Xun Qiang is in many ways far more interesting and entertaining than the general run of HK noirish thrillers“, schlussfolgert Joihn Grant für Noirish und solches Urteil weist schon in Richtung der vom Hongkong-Kino so klar verschiedenen Qualitätsmerkmale des chinesischen Films. Mit seinem ersten Werk als Autor und Regisseur holt Lu Chuan aus dem eindeutig begrenzten Budget das Maximale heraus und überzeugt mit seiner pointierten Geschichte, einer cleveren Inszenierung der im Grunde wenig spektakulären Drehorte und mit den Leistungen aller beteiligten Darsteller. Wen Jiang ist herausragend in der Rolle des über Nacht in eine existenzielle Krise gestürzten, so einfachen wie pflichtbewussten Polizisten und Vaters. Seine Suche nach der verlorenen Waffe, die immer größeren Kreise zieht und bald viele Menschen in den Strudel jener Ereignisse einbezieht, die zudem ein Todesopfer fordern, wird zu einer Prüfung, die mit Wiederaufstehen von Ereignissen seiner Vergangenheit auch persönliche Entscheidungen von ihm verlangt. Ma Shan bringt das Talent, für das er als Polizeibeamter in der Ortschaft bekannt ist, zur Anwendung und muss sich zugleich den Verantwortlichkeiten seiner Ehe und seiner Vaterschaft in ungeahnter Weise stellen. Das Drehbuch variiert die zentrale Thematik von Schuld und Unschuld des Film-Noir-Charakters, der Ma Shan eindeutig ist, ebenso spannend wie einfühlsam, und auch ein internationales Publikum kann dem mit einigen Kniffen und Tricks des 90er-Jahre-Kinos inszenierten Thriller gut folgen. Das Finale kann die Erwartungen allerdings nicht voll erfüllen. Der Antiheld wird zum Helden stilisiert; schließlich hatte er einst schon im chinesisch-vietnamesischen Krieg gekämpft.
Im Gegensatz zu dem chinesischen Neo Noir Blinder Schacht (CHN 2003) von Yang Li ist Die verlorene Waffe von Chuan Lu kein Film mit einer Botschaft, die über den Kontext des Dramas hinausweist. Wer vom Drehbuch bzw. dessen Umsetzung eine regimekritische Perpektive erwartet, wird feststellen, dass es mehr oder minder versteckt sogar patriotische Untertöne gibt. In Akira Kurosawas klassischem Film Noir Ein streunender Hund / Ein herrenloser Hund (JPN 1949) ist für Police Detective Murakami (Toshiro Mifune) der Weg zur eigenen Dienstwaffe bis zuletzt einer jenseits von Moral und Staatsräson. Der Beamte Ma Shan stellt das Gemeinwohl klar über sein eigenes, so wie er es als Staatsdiener gewohnt ist. Diese Entscheidung eines Menschen, dem im Krieg vom Freund “Old“ Xiang (Pan Yong) das Leben gerettet wurde, stellt die vom Verlust der Pistole bedrohte Ordnung im Mikrokosmos schließlich wieder her. Der brave Schlusspunkt tut zwar der Qualität und dem schwarzen Humor des Films keinen Abbruch, lässt Zuschauer der westlichen Hemisphäre aber mit einem Achselzucken zurück, denn die durchweg eigenwilligen, teils vollends bizarren Figuren des Kammerspiels haben mehr versprochen, als sie zu halten bereit sind. Der längst mit internationalen Filmpreisen ausgezeichnete Lu Chuan dreht seither immer aufwendigere Werke, die mitdem Kriegsepos City Of Life And Death (CHN 2009) und der Walt-Disney-Naturdokumentation Born In China (UK/CHN/USA 2016) auch sehr deutlich von Nationalstolz geprägt sind. Wen Jiang hat sich in den letzten 15 Jahren sowohl als Schauspieler als auch als Regisseur in China und in den USA einen Ruf erworben.
Gute deutsche DVD-Edition (2004) der Sony Pictures Home Entertainment mit dem Film ungekürzt im Originalformat, dazu die original chinesische Tonspur und eine deutsche Synchronisation, optional Untertitel auf Deutsch, Englisch und Türkisch, den Kinotrailer als einzigen Bonus.