Film Noir
| USA
| 1944
| Robert Siodmak
| Paul Ivano
| Charles Laughton
| Clifford Brooke
| Ernie Adams
| Stanley Ridges
| Ella Raines
Bewertung
***
Originaltitel
The Suspect
Kategorie
Film Noir
Land
USA
Erscheinungsjahr
1944
Darsteller
Charles Laughton, Ella Raines, Dean Harens, Stanley C. Ridges, Henry Daniell
Regie
Robert Siodmak
Farbe
s/w
Laufzeit
82 min
Bildformat
Vollbild
© Universal-International Pictures Inc.
London im Jahr 1902: In der etwas seltsam Laburnum Terrace benannten Straße wohnt der Geschäftsführer der Tabakhandlung Frazer & Nicholson Philip Marshall (Charles Laughton) mit seiner Frau Cora (Rosalind Ivan) und dem erwachsenen Sohn John (Dean Harens). Als er heute nach Hause kommt, nachdem er noch seine Nachbarin Mrs. Simmons (Molly Lamont) in ihrem Vorgarten begrüßte, hängt der Haussegen mächtig schief. Aufgrund der Entscheidung ihres nach Unabhängigkeit strebenden Sohns, für seinen Arbeitgeber nach Kanada zu emigrieren, kam es zum Streit. Die Mutter hat 20 Seiten schriftlicher Unterlagen Johns, die Ergebnisse eines Arbeitstages, im Kamin verbrannt. Und so packt der Junge seine Sachen und zieht kurzerhand aus. Als Philip Marshall Zeuge dieses letzten Akts des Dramas wird, beschließt er, das gemeinsame Schlafzimmer zu verlassen und ins Zimmer des Sohnes zu übersiedeln. Der Gemahlin schneidet er mit einer bedrohlichen Replik das Wort ab und schließt seine Tür... Einige Tage später kommt kurz vor Geschäftsschluss die hübsche Mary Gray (Ella Raines) in der Tabakhandlung vorbei und bittet um einen Termin mit Marshall. Jener ist von ihrer Bewerbung um eine Stelle als Stenografin zwar persönlich angetan, hat jedoch keinen Bedarf an einer neuen Kraft. Als er auf dem Weg nach Haus an einer Parkbank vorüberkommt, sieht er dort die in ein Taschentuch schluchzende Mary sitzen. Marshall ist betroffen, als er hört, dass die junge Frau nach dem Tod ihres Vaters versucht sich allein durchzuschlagen. Er bietet ihr zum Besuch eines chinesischen Restaurants ein Gespräch an und winkt eine Droschke herbei…
Dieser Film wird hier deshalb besprochen, weil ihn die Koch Media GmbH in ihrer Film Noir Collection veröffentlicht hat. Im beigefügten Essay bemängelt Frank Arnold, dass die internationale Selundärliteratur zum Film Noir Robert Siodmaks Unter Verdacht bis heute nicht berücksichtigt. Er liefert allerdings kein Argument, warum sie das tun sollte. Bekannternmaßen war Siodmak zwischen 1944 und 1950 einer der einflussreichsten Regisseure des Film-Noir-Kanons. Er drehte in der Zeit aber auch anderes, wie z.B. den Abenteuerfilm Die Schlangenfrau (USA 1944) oder das Familiendrama Time Out Of Mind (USA 1947). Mit seinem auf dem 1910 datierten Kriminalfall des Dr. Crippen basierenden Skript ist Unter Verdacht nur zum geringen Teil ein Film Noir – wenn überhaupt. Gedreht vor historischen Studiokulissen in meist konventioneller High-Key-Ausleuchtung, ohne ausgeklügelte narrative Struktur, ohne Femme fatale und ohne einen von inneren Dämonen geplagten und von erbarmungslosen Widersachern verfolgten Homme fatale bleibt nur die Zersetzung des Gut-vs-Böse-Schemas durch einen vermeintlich sympathischen Protagonisten, der von gehässigen Mitmenschen zum Äußersten getrieben wird. Doch Hand aufs Herz! Wie sympathisch ist Philip Marshall, der auf alle Anschuldigen überlegen gefasst und klug reagiert? Seine Nervosität gibt keinen Hinweis auf innere Zerrissenheit, auf eine ihn peinigende Einsicht in die eigene Schuld. Stets der vollendete Gentleman arbeitet Marshall im Verlauf des Films nur an der Baustelle privaten Glücks, für das er über Leichen geht. So ist seine Nervosität bloß die gewöhnliche Angst vor Entdeckung. Im Grunde, und das bezweifelt kein Kritiker, ist Philip Marshall davon überzeugt, dass die seinem Glück im Weg stehenden Plagegeister ihren Tod jeweils auch verdient hatten. Sympathisch?
Doch ein anderer Aspekt des zu Teilen überzuckerten und mit banal komödiantischen Einlagen gewürzten Dramas lässt den Film zumindest nicht zum Ärgernis werden. Inspektor Huxley (Stanley C. Ridges) setzt der Kanaille des Mr. Simmons einen Floh ins Ohr, der für jenen fatale Folgen hat… Das bedauert am Ende der Polizist sowenig wie sonst jemand in diesem moralisch fragwürdigen Film, dessen Fragwürdigkeit damit allerdings auf einen Abgrund weist, der eines Film Noirs würdig ist, doch von fast allen Rezensenten übersehen oder nicht explizit hervorgehoben wurde. Hochwertig an der im Grunde mediokren Geschichte ist das Schauspiel Charles Laughtons, der seine Rolle punktgenau interpretiert, sowie dasjenige vieler Nebendarsteller, vor allem Ella Raines‘ und Henry Daniells. Weit weniger überzeugend ist der an keiner Stelle nachvollziehbare Mordverdacht Inspektor Huxleys, der sich beim ersten Treffen mit Marshall in einer grotesk taktlosen Weise aufführt, die – obwohl als Szene grandios – einfach unglaubwürdig ist. Gleiches gilt für die Romanze zwischen Philip Marshall und Mary Gray. Sie ist schön inszeniert und toll gespielt. Aber der schwergewichtige Laughton wirkte bereits älter als die 45 Jahre, die er tatsächlich zählte, während Ella Raines ihre 24 Lenze sehr deutlich zur Schau trägt. Der Film müht sich hier zwar redlich ab, überzeugt letzten Endes aber nicht ansatzweise. Alles in allem ist Unter Verdacht ein betulicher Thriller mit großteils guten Darstellern und zumindest einem Widerhaken.
Wunderbar editierte DVD-Ausgabe (2014) im Digipack als Nr. 16 der Film Noir Collection der Koch Media GmbH mit dem Film ungekürzt im Originalformat, wahlweiser deutscher oder englischer Originalton ohne Untertitel. Bildtechnisch ist die Fassung nicht brillant, aber allemal hochwertig. Als Extras gibt es einen Filmessay Frank Arnolds im eingeklebten, 12seitigen Booklet des Innenteils, dazu auf der DVD eine Bildergalerie mit internationalen Filmpostern und Aushangfotos und das original Radiohörspiel vom April 1945 mit den Stimmen Laughtons, Raines‘ und Ivans. Eine vorbildliche editorische Leistung!