Bewertung
****
Originaltitel
The 39 Steps
Kategorie
Pre Noir
Land
UK
Erscheinungsjahr
1935
Darsteller
Robert Donat, Madeleine Carroll, Lucie Mannheim, Godfrey Tearle, Peggy Ashcroft
Regie
Alfred Hitchcock
Farbe
s/w
Laufzeit
82 min
Bildformat
Vollbild
London: In der Music Hall tritt am heutigen Abend “Mr. Memory“ (Wylie Watson) auf, der vom dortigen Zeremonienmeister (Pat Hagate) einem ebenso lebendigen wie spöttischen Publikum angekündigt wird. Jede Frage soll er beantworten können, und tatsächlich kann “Mr. Memory“ auch knifflige Rätsel im Nu mit der korrekten Angabe lösen. Plötzlich kommt es zu einem Tumult im Saal. Leute prügeln sich erst und dann fällt ein Schuss… Das Publikum gerät in Panik. Der Kanadier Richard Hannay (Robert Donat) findet sich in Gesellschaft von Annabella Smith (Lucie Mannheim), die er hilfsbereit aus der Menge hinaus geleitet hat und die ihn darum bittet, zu ihm nach Hause mitkommen zu dürfen. Hannay willigt ein, nicht ohne einen ironischen Kommentar, und die beiden fahren mit dem Bus Richtung Portland Place. Hannay ist in dem dortigen Apartmentblock kein ständiger Mieter, nur hin und wieder aus Kanada zu Gast. Als sie in die dunkle Wohnung kommen, darin die Möbel mit Tüchern verhängt sind, eilt Annabella zwischen die Fenster, bevor sie Richard Hannay erlaubt das Licht einzuschalten. Als das Telefon läutet, verbietet sie ihm abzunehmen, da es angeblich ihretwegen klingele. In der Küche verrät sie ihm, dass sie eine Agentin sei, die ein Geheimnis zu wahren suche, dass für Englands Sicherheit von größter Bedeutung sei. Ein feindlicher Agent sei ihr auf der Spur, deshalb habe sie selbst in der Music Hall die Panik ausgelöst. Ob er wohl wisse, was die 39 Stufen seien, möchte sie gern von ihm wissen…
“I know what it is to feel lonely and helpless and to have the whole world against me.” Dieser Satz hätte wahrscheinlich von jedem der waschechten Film-Noir-Protagonisten der kommenden Vierziger mit einigem Anspruch auf Wahrheit ausgesprochen werden können. Tatsächlich fällt er schon Jahre früher, in Alfred Hitchcocks Thriller The 39 Steps, einer freizügigen Verfilmung des gleichnamigen Romans von John Buchan (EA 1915), der konträr zu Hitchcocks Adaption zu Beginn des ersten Weltkriegs spielt. Der dort auftretende Protagonist Richard Hannay war noch in vier weiteren Romanen Buchans deren Held und Detektiv wider Willen. Für den so berühmten Regisseur der Filmfassung war 39 Stufen, der Ende 1947 auch in Deutschland zur Aufführung kam, von ähnlicher Bedeutung wie seinerzeit sein erster Thriller, der Stummfilm The Lodger (UK 1927), der Hitchcock als sein erster kommerzieller Erfolg das weitere Schaffen als Regisseur ermöglichte. Nun war es 39 Stufen, der ihm auch in den USA eine neue Art der Rezeption und der Aufmerksamkeit für sein weiteres Werk sicherte und 1939 schließlich den Sprung nach Hollywood vorbereiten half. Noch heute beeindruckt dieser Film durch seine perfekte Dramaturgie und eine für die damalige Zeit ungewöhnliche Schnittfolge, die sowohl der teils rasanten Dynamik als auch langen, dunkel poetischen Einstellungen Rechnung trägt. So mancher Filmkritiker hat schon vor Jahren, vor Jahrzehnten die Ansicht geäußert, dass sich hier die Hand des Meisterregisseurs bereits ausgebildet zeige, und dem widerspreche ich nicht.
“The 39 steps is the most fully realized and accomplished film of his British period. Despite its comic plot (…) it also belongs to film noir”, schreibt der Filmwissenschaftler William Park in seinem Buch What is Film Noir? (2011). Tatsächlich zeigt sich Hitchcock hier nicht bloß vom deutschen Expressionismus beeinflusst, dessen Bedeutung für sein Frühwerk er mehrfach erwähnt hat. Neben stilistischen Referenzen sind es gerade auch inhaltliche Bestandteile, die für den Regisseur signifikant werden sollten und auch im Film Noir eine Rolle spielten. So tritt mit Richard Hannay der scheinbar schuldige Unschuldige in Erscheinung, dessen Verhalten wenig dazu beiträgt, ihn von der "Schuld" zu befreien. Mit der wasserstoffblonden Pamela findet sich der Prototyp der für Hitchcock so typisch kühlen “Femme fatale“, die zumindest äußerlich eine solche zu sein scheint und sich in der Tat über weite Strecken der Handlung für den Protagonisten als fatal erweist. Zudem ist die Staatsgewalt in Form der Polizei keine helfende oder nur hilfreich-verständnisvolle Institution sondern in ihren Methoden und Ansichten stets gnadenlos und vom eigenen Misstrauen eher zum Irrtum verführt als zur Einsicht geleitet. Auch das Versteckspiel mit falschen Identitäten, naheliegend für eine Agentengeschichte, wird hier schon im Stil späterer Werke entwickelt. Ein wichtiger und ungewöhnlicher Vorläufer des Film Noirs der Vierziger ist dieser Thriller, der noch heute seinen Wert behauptet, wenn er sich zum Ende hin auch von Standards seiner Zeit zunehmend dominiert sieht.
Es gibt mehrere deutsche Editionen dieses in der Public Domain befindlichen Films, der auch online in Fassungen unterschiedlicher Qualität kursiert. Eine als Collectors Edition titulierte BD und DVD (2014) ist von der Great Movies GmbH, mit dem Film in guter Qualität ungekürzt und im Originalformat, dazu die original englischen Tonspur, die technisch gut, aber nicht immer leicht verstehbar ist. Die deutsche Synchronisation ist eine Katastrophe: Hintergrundmusik und Geräusche sind völlig andere, die Übersetzung ist eher „frei“. Es ist womöglich eine TV-Synchro, die Sprecher erzeugen keinerlei Raumklang, jeder Satz (auch im Freien) klingt nach Tonstudio. Untertitel gibt es keine, der Kinotrailer ist das einzige Extra. Eine ältere DVD-Edition (2002) von EuroVideo schneidet hier nicht schlechter, leider auch nicht besser ab.